Die Parallelwelten der EU - In der Theorie sind zwar alle für Afrika, in der Praxis kommen viele Flüchtlinge ums Leben

Artikel in Junge Welt, 09.Nov.2005 - Tobias Pflüger

4. Oktober 2005, Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, Thema: "Kleiner Grenzverkehr". Die Diskussion plätschert so dahin bis sich der konservative spanische Kollege José Salafranca, zu Wort meldet. Im diskutierten Zusammenhang müsse auch "der Ansturm" der Menschen aus Afrika "gegen" die spanische Städte Ceuta und Melilla diskutiert werden. Das europäische Parlament müsse sich gegen die Angreifer solidarisch mit dem spanischen Staat erklären! Kein Wort davon, dass dort an der Grenze gerade sechs Flüchtlinge umgebracht worden sind. Ich melde mich zu Wort und widerspreche Salafranca. Daraufhin ergibt sich eine längere heftige Debatte, in deren Verlauf die verschiedenen spanischen Abgeordneten der anderen Fraktionen Bekenntnisse abgeben, dass Ceuta und Melilla "schon immer" spanisch gewesen seien.

Mein spanischer Fraktionskollege Willy Meyer-Pleite (sein deutscher Nachname stammt vom antifaschistischen spanienkämpfenden Großvater) von der Vereinigten Linken (IU) ist wie ich über seine Kollegen entsetzt. Er sagt, dass wir direkt in Ceuta und Melilla uns ein Bild machen müssen. Francis Wurtz, der Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion (GUE/NGL) und Giusto Catania der Koordinator der Linksfraktion im Innenausschuss unterstützen den Vorschlag.

Am Sonntag 9. Oktober, sitze ich im Flugzeug nach Madrid. Am Abend kam ich zufällig in eine Mahnwache für die Toten in Ceuta und Melilla auf dem zentralen Platz Puerta del Sol. Bei einigen Teilnehmenden versuche ich konkretere Informationen zur aktuellen Situation vor Ort zu bekommen, doch stellte sich heraus, dass die Demo von vielen Einzelpersonen per SMS und Telefon binnen weniger Stunden zusammengerufen war und keine Organisationen dahinter standen, die Kontakt zu den spanischen Exklaven besitzen.

Am 10. Oktober morgens landete die sechsköpfige Fraktionsdelegation auf dem afrikanischen Kontinent, die meisten waren vor einigen Monaten auch auf der italienischen Insel Lampedusa dabei. Als erstes trafen wir Juan José Imbroda, den Präsidenten der autonomen Stadt Melilla, den örtlichen Chef der "Guardia Civil" und den Direktor des Flüchtlingslagers. Auf fast alle unsere konkreten Fragen, z.B. wie viele Tote es an den Grenzanlagen gegeben hat, wie viele Flüchtlinge ausgewiesen werden, wie viele Asyl beantragen, bekommen wir keine konkreten Antworten. Immer wieder: Die Lage sei angespannt, aber die spanischen Behörden würden keine Fehler machen.

Später gehen wir dann zu den Grenzanlagen. Noch sind auch blutbeschmierte Bekleidungsfetzen zu sehen, die bei dem Versuch der Flüchtlinge, den Stacheldraht zu überwinden, hängen blieben. Die Situation an dieser EU-Außengrenze ist einfach erschreckend. Der Grenzzaun von Melilla ist quasi das Symbol des Scheiterns der EU-Asyl- und Migrationspolitik und der EU-Afrikapolitik. In den letzten beiden Wochen sind mindestens 11 Tote an der Grenze zu beklagen gewesen. Ob spanische Grenzsoldaten oder marokkanische Polizisten die Flüchtlinge getötet haben, ist nicht zu erfahren. Eine unabhängige Untersuchung wurde bisher nicht eingeleitet, ist aber dringend überfällig.

Doch auch die Flüchtlinge, die es in die EU geschafft haben, können sich nicht in Sicherheit wähnen. Vor Ort sahen wir, wie perfide die Grenzanlagen sind: Die Flüchtlinge müssen zuerst einen etwa 3 Meter hohen Zaun überwinden, auf dem NATO-Stacheldraht aufliegt, dann einen Zwischenraum, der ebenfalls mit dem rasiermesserscharfen Stacheldraht gefüllt ist, und schließlich einen etwa 6 Meter hohen Zaun, wieder mit Stacheldraht. Die meisten, die den ersten Zaun bereits überwunden haben sind faktisch schon auf spanischen Boden. Viele werden aber dann in diesem Zwischenraum aufgegriffen und von dort gleich wieder auf die marokkanische Seite gebracht. Somit ist klar, dass Spanien gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstößt. Diejenigen, die es aber auch über den zweiten Zaun schaffen, werden in ein Auffanglager innerhalb Melillas gebracht. Diese Leute sind aber ebenso in Gefahr, später wieder zurückgeschickt zu werden.

In den Flüchtlingslagern in Melilla scheint es einigermaßen korrekt abzulaufen, ganz im Gegensatz zum üblen Lager in Lampedusa. Allerdings werden die Flüchtlinge so gut wie nie auf die Möglichkeit hingewiesen, dass sie einen Asylantrag stellen können. Stattdessen werden viele Flüchtlinge in Massenabschiebungen wieder nach Marokko gebracht. Und Marokko hat gleich mehrere Gruppen von Flüchtlingen - völlig unmenschlich - mit Bussen einfach mitten in der Wüste - in Marokko, in der besetzten Westsahara und an der Grenze zu Mauretanien - ausgesetzt. Hätten nicht "Ärzte ohne Grenzen" einige der Flüchtlingsgruppen ausgemacht, wären sie elendiglich verreckt. Ob alle Gruppen entdeckt wurden, ist offen.

Wir fuhren entlang der quasi militärisch gesicherten Grenzanlage zwischen Marokko und Melilla, ein schrecklicher Eindruck. An einer Stelle liegen die von Hand gefertigten Leitern der Flüchtlinge zu einem großen meterhohen Haufen aufgetürmt. Bei den Flüchtlingen im Lager war aufgefallen, dass viele von ihnen Verletzungen an Händen und Füßen aufwiesen. Hier in Melilla kann man aus der Festung Europa hinaussehen, die marokkanischen Häuser und Zelte sind nur wenige Meter entfernt. Und die Menschen außerhalb sehen in den Reichen "Norden" hinein.

Selbstverständlichkeiten, etwa, dass kein Militär gegen Flüchtlinge eingesetzt werden und auch nicht auf Flüchtlinge geschossen werden darf, sind hier außer Kraft gesetzt. Aus den Gesprächen wurde klar, dass die spanischen Behörden sehr gut mit den marokkanischen zusammenarbeiten. Es entsteht der Eindruck, als habe man sich auf eine Arbeitsteilung verständigt, wobei den Marokkanern die "Drecksarbeit" überlassen wird.

Der afrikanische Himmel über Melilla ist herbstlich eingefärbt, als wir abends wieder nach Madrid zurückfliegen, am nächsten morgen geht es sehr früh wieder zurück. In Brüssel weist zugleich die EU-Kommission 40 Millionen an, um den Abwehrwall möglichst schon in der Sahara beginnen zu lassen.

Am 11. Oktober morgens bin ich wieder zurück in Brüssel: An der internen Vorbereitung der Sitzung kann ich nicht teilnehmen, ich gehe direkt in den Auswärtigen Ausschuss. Wie der Zufall es will, steht eine Stellungnahme von mir zur Entwicklungsstrategie der EU-Kommission für Afrika auf der Tagesordnung (vgl. http://tobiaspflueger.twoday.net/stories/1051708/).

Doch eine Kritik der EU-Afrika-Politik ist bei meinen Kollegen nicht erwünscht. Die Formulierung einer "Anregung einer Debatte zu den Folgen des Kolonialismus" in meinem Entwurf wird niedergebügelt. Der britische Konservative Charles Tannock spricht von "den Handelsüberschüssen", die die britischen Kolonien bei Entlassung in die Unabhängigkeit gehabt hätten. Erst danach seien sie von korrupten afrikanischen Machthabern heruntergewirtschaftet worden. Die Sozialdemokratin Véronique De Keyser verwahrt sich gegen die Erwähnung der Situation an der EU-Außengrenze in Nordafrika. Einig sind sich die anderen, dass die Stellungnahme "zu ideologisch" und "zu radikal" wäre. Ungern möchte man hier im schönen Brüssel auf die hässlichen Realitäten "dort unten" verwiesen werden.

Das ist die EU-Parallelwelt. Statt in reale Armutsbekämpfung und Unterstützung von Eigeninitiativen Geld zu stecken, gibt es Militärkooperationen mit afrikanischen Staaten. Die eigene gescheiterte EU-Afrikapolitik ist man nicht bereit zur Kenntnis zu nehmen. Eine Verantwortung dafür, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgeht und die EU-Außengrenze zur Armutsgrenze wird, sieht man nicht. Tote an dieser Grenze nimmt man offenbar billigend in Kauf oder man will es einfach nicht wissen. Ideengeber für die Lagerpolitik und die mörderische EU-Flüchtlingspolitik war mit Otto Schily ausgerechnet ein Deutscher.

Trackback URL:
https://tobiaspflueger.twoday.net/stories/1157877/modTrackback

Trackbacks zu diesem Beitrag

Rekursiv Paradoxon - 2010/01/13 04:42

AI für Flüchtlingsinhaftierung in Österreich

Es ist schon ein christliches Kreuz... [weiter]
logo
tobias pflueger DieLinke_RGB


Startseite
Über mich
Kontakt

Suche

 

RSS-Feed: Informationsstelle Militarisierung

Audio: Interview zur Studie über die mediale Zeitenwende im Diskurs...
Im freien Radio Wüste Welle sprach der Autor der Studie...
IMI - 2024/04/18 14:34
Studie zur Diskursverschiebung über den Konzern Rheinmetall-AG
Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. hat...
IMI - 2024/04/16 12:33
Von der Schmuddelecke in die Systemrelevanz
———————-...
IMI - 2024/04/16 10:01
„Assistenz“ beim Bombardement in Gaza
Erste Veröffentlichung: Habsora Bereits Ende November...
IMI - 2024/04/15 15:49
Bundeswehr der Zeitenwende
„Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime“[1] – diese...
IMI - 2024/04/05 14:33

Archiv

Status

Online seit 7157 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2013/01/26 00:43

User Status

Du bist nicht angemeldet.