Geopolitische Interessen - EU-Beitritt der Türkei, "privilegierte Partnerschaften" und "Parallelgesellschaften"

Interview mit Tobias Pflüger in der Sendung "TÜFunk" des Freien Radio Wüste Welle, Freitag 21. Januar 2005

Heute Abend tritt der deutsch-türkische Kabarettist Muhsin Omurca im Tübinger Sudhaus auf. Er wird den Umgang der Europäischen Union mit der Türkei auf die Schippe nehmen, in besonderer Weise aber das Gerede der deutschen Konservativen von der privilegierten Partnerschaft und deren demonstrative Angst vor dem Untergang des christlichen Abendlands.

Auf der europäischen Ebene ist das Verhältnis zur Türkei widersprüchlich und verwirrend. ein Türkeibeitritt zur EU wird vorangetrieben, interessanterweise gerade von den politischen Kräften, die in der Vergangenheit die entschiedenste Kritik an der Menschenrechtssituation in der Türkei vorbrachten. Gegen einen EU-Beitritt der Türkei sind dagegen vor allem die Konservativen, denen die Menschenrechtslage in der Türkei nie besonders am Herzen lag, die sie aber jetzt entdecken und wie die CDU Ängste vor einer Islamisierung Westeuropas heraufbeschwören.

Der Tübinger Tobias Pflüger ist seit Sommer des letzten Jahres Abgeordneter im Europaparlament. Mit ihm habe ich mich über den Stand der Diskussion im Europaparlament bezüglich eines EU-Beitritts der Türkei unterhalten.

Die Frage eines EU-Beitritts der Türkei spaltet meines Erachtens die politischen Lager, die üblichen Positionen kommen dabei ziemlich durcheinander. Wer will eigentlich warum die Türkei in der EU haben?

Vor allem will die EU-Kommission und der Ministerrat der EU die Türkei in der EU haben und dort die Mehrheit der sozialdemokratischen Regierungen und der liberaleren konservativen Regierungen. Die wollen vor allem die Türkei in der EU drin haben.

Das sind doch gerade die, die früher viel Kritik an der Türkei, speziell am Thema Menschenrechte hatten.

Genau, das ist für mich die spannende Konstellation. Wir haben im auswärtigen Ausschuss die Konstellation, dass von Seiten der Konservativen plötzlich die Menschenrechtsfrage entdeckt wurde, immer und immer wieder debattiert wurde, detailliert und mit einer Schlagseite, denn es ging da vor allem um die Christen, nicht so sehr um die Menschenrechtsverletzungen gegen die Kurden oder durch das Militär, dies spielte nur eine sehr untergeordnete Rolle. Von rotgrüner Seite wurde nun die Menschenrechtssituation gesund geredet. Am Bezeichnendsten dafür war Michel Rocard, ehemaliger französischer Ministerpräsident, Mitglied der Sozialisten, also der Sozialdemokraten, der ganz offen gesagt hat: Lassen Sie uns nicht so viel über Menschenrechte reden. Lassen Sie uns über das reden, worum es geht: Geopolitik. Und das ist, so wie es aussieht, auch die Hauptmotivation der EU-Kommission als auch derjenigen, die den EU-Beitritt vor allem wollen. Das sieht man an dem Bericht, der vorgelegt wurde. Der Bericht der EU-Kommission hat als ersten Punkt die geopolitische Dimension und benennt das ganz offen, dass es darum geht, dass mit dem Beitritt der Türkei die europäische Union ein weltpolitischer Akteur wäre. Da wird auch ganz offen gesagt, dass es um Zugang zu Rohstoffen geht, Zugang zu Öl, Zugang zu Wasser. Zugang zu welchem Öl? Zum irakischen Öl. Zugang zu Wasser? Zu dem Wasser, das die Türkei Syrien im Moment gerade abgräbt. Und dann wird ganz offen formuliert, dass es auch darum geht, dass das türkische Militär ein relativ potentes Militär ist.

Die Türkei ist ja schon lange Mitglied der NATO, wozu muss sie dann zur Durchsetzung dieser Ziele dann noch in die Europäische Union?

Günther Verheugen hat das sehr schön auf den Punkt gebracht. Der sagte nämlich: Wenn die Türkei in der EU drin ist, dann nimmt jeder in der Welt die EU als weltpolitischen Akteur wahr. Das ist ja zur Zeit immer das Spiel: Welche Institution spielt eigentlich die wichtigere Rolle, wenn Interventionen geplant werden? Derzeit die NATO, aber zunehmend eben die EU. Die EU will ja selbst kriegsführungsfähig, interventionsfähig werden, da wird auf allen Ebenen darauf hingearbeitet. Erst gestern wieder im Auswärtigen Ausschuss sagte der luxemburgische Verteidigungsminister ganz offen, dass es darum geht, eigenständig Interventionsfähigkeiten zu bekommen. Das ist eines der Hauptziele, und wenn man die Türkei mit drin hat, dann bestreitet das weltpolitisch niemand mehr, denn dann ist völlig klar, dann ist die EU ein weltpolitischer Akteur, auch militärisch. Und das muss man ja ganz offen sagen, die Türkei hat die zweitgrößte NATO-Armee nach den USA. Und sie hat vor allem eine Armee, die kriegserfahren ist und das ist natürlich für die Pläne, die in der EU gerade laufen, ganz hilfreich.

Was jetzt aus meiner Sicht nicht so recht dazu passen will, ist, dass ja die französische Regierung als Staat, der das Kerneuropa mit ausmacht, offenbar doch gegen einen Türkeibeitritt ist. Was geht da durcheinander aus deiner Sicht?

Das Interessante bei der französischen Regierung ist die Wechselwirkung innerpolitischer Fragen und außenpolitischer Fragen. Außenpolitisch setzen die relativ eindeutig auf einen Türkeibeitritt, deshalb haben sie bei sämtlichen Verhandlungen, die bisher mit der türkischen Regierung gelaufen sind, völlig die Linie Deutschlands oder auch der damaligen niederländischen Präsidentschaft mitgetragen. Innenpolitisch ist das eine ganz andere Frage. Innenpolitisch ist vor allem Jacques Chirac unter Druck und vor allem von zwei Seiten. Einmal von einem innerparteilichen Gegner, von Sarkozy, und von den Sozialisten. Und er versucht im Moment, sich mit verschiedenen Punkten zu profilieren. Unter anderem damit, dass er angekündigt hat, man müsse das mit dem EU-Beitritt der Türkei doch etwas kritischer sehen und es damit wieder auf die lange Bank schiebt. Unter anderem das ist vor allem innenpolitisch zu sehen. Außenpolitisch ist Deutschland da völlig auf der Linie mit Deutschland, den Niederlanden und so weiter.

Was darf oder was durfte eigentlich das Europäische Parlament bisher zu der Frage des Türkeibeitritts mitreden oder auch mitentscheiden?

Mitentscheiden de facto nichts, mitreden einiges. Es gibt im Europäischen Parlament ja nicht wie im Bundestag sagen wir mal Beschlussvorlagen der Regierung oder der Fraktionen, sondern einzelne Berichte. Das heißt, einzelne Abgeordnete schreiben einen Text, der dann debattiert wird, dieser Text läuft durch die Ausschüsse und wird dann im Plenum verabschiedet. Das war in diesem Fall der so genannte Eurlings-Bericht. Das ist ein niederländischer Konservativer, ein Liberalkonservativer, der für den Beitritt ist, aber ganz harte Bedingungen haben will. Und dieser Bericht wurde debattiert im Auswärtigen Ausschuss und danach im Plenum und dabei war es so, dass Rotgrün dafür gesorgt hat, dass sämtliche konkreten Menschenrechtsverletzungen nicht auftauchen mit Hilfe von den Gegnern des EU-Beitritts, also den Konservativen, die das nicht wollten und wir als linke Fraktion das Problem hatten, dass die Grundtendenz eindeutig für einen EU-Beitritt ist, aber nicht so, wie er begründet wird mit dieser geopolitischen Dimension und so weiter und dass plötzlich die Menschenrechtssituation keine Rolle mehr spielen soll. Wie dann letztlich die einzelnen Abgeordneten abgestimmt haben, war in der linken Fraktion unterschiedlich. Ich persönlich habe mich bei diesem Bericht enthalten, weil er völlig schräg war. Andere haben dem Bericht zugestimmt, weil sie gesagt haben, sie sind grundsätzlich für den EU-Beitritt und wollen mit dem Ja das grundsätzliche Ja befürworten. Das halte ich für falsch. Was das EU-Parlament gemacht hat ist, kurz bevor die Regierungschefs der EU das verhandelt haben, ihre Positionen abzugeben, und das war insofern nicht irrelevant als dass da eine ziemliche Mehrheit für einen EU-Beitritt war, unter den jetzigen Bedingungen, was ich für falsch halte und, und das ist glaube ich wesentlich, diese idiotische Idee der Konservativen mit dieser privilegierten Partnerschaft wurde eindeutig zurück gewiesen. Das war insofern wichtig, weil, wenn das jetzt eine Mehrheit bekommen hätte, wäre das bei den Verhandlungen der EU-Regierungschefs tatsächlich eine ernsthafte Option geworden. So war das als ernsthafte Option weg. Was nie ernsthaft zur Debatte stand, ist, dass man tatsächlich ganz seriös die Menschenrechtssituation in der Türkei beschreibt. Das war nicht im Sinn von Rotgrün, das war nicht im Sinn der EU-Regierungschefs und das ist jetzt unsere Aufgabe als Linke und Menschenrechtsgruppen, dieses Beitrittsprozess zu begleiten und immer wieder darauf hinzuweisen, welche Schweinereien da sowohl von türkischer Seite als auch von EU-Staatenseite aus laufen. Ich erinnere nur an die angekündigte Lieferung von 350 Panzern, die von Deutschland an die Türkei gehen sollen.

Ich würde jetzt mal vermuten, dass es innerhalb der linken Fraktionen im Europaparlament eine ziemliche Konfusion gibt, wie man sich eigentlich zu dieser ganzen Diskussion verhalten soll. Eigentlich ist man ja für den Beitritt der Türkei zur EU, weil man sich da Verbesserungen im Hinblick auf Menschenrechte usw. verspricht, aber jetzt müsste man eigentlich dagegen sein, weil die derzeit Herrschenden auf der europäischen Ebene eigentlich was ganz anderes damit vorhaben. Zeichnet sich irgendeine Lösung ab in dieser Diskussion?

Die Debatte in der linken Fraktion ist gelaufen. Da war es so, dass es de facto drei Vorschläge gab. Vorschlag eins war, dem Bericht, obwohl er schlecht ist, zuzustimmen als Grundtendenz, weil man quasi für den EU-Beitritt ist. Der Vorschlag zwei war, sich zu enthalten, weil die Begründung nicht stimmig ist. Und der Vorschlag drei war, dagegen zu stimmen, weil die gesamte Begründung und alles nicht stimmig ist und es auch in der linken Fraktion Gegner eines EU-Beitritts aus linker Sicht gibt. Das hat sich dann verteilt in der linken Fraktion. Wie gesagt, meine Position war, sich zu enthalten und ich weiß, dass eine Reihe dem gefolgt sind. Ich hätte mir gewünscht, dass dem mehr gefolgt wären, aber das war ja eine freigegebene Abstimmung. Und leider ist es so, dass die Türkeifrage nicht detailliert debattiert wurde vor der Abstimmung und jetzt ist es schon wieder ein Thema, das weggerutscht ist.

Ich würde jetzt noch gerne das Stichwort "privilegierte Partnerschaft" aufgreifen. Die Deutschen Konservativen sind ja gegen den EU-Beitritt der Türkei und haben da jetzt auch die Menschenrechtsfrage entdeckt - aus Angst vor dem Islam, aus Angst ums deutsche Vaterland, um die christliche Kultur und so weiter und sitzen da jetzt schon wieder im gleichen Boot wie die Rechtsextremen, die Menschen aus der Türkei noch aus anderen Gründen nicht in Europa haben wollen. Wie wird eigentlich diese deutsche Diskussion in Brüssel aufgenommen?
Ja, das ist ganz spannend. Die Fraktionsvorsitzenden der verschiedenen Fraktionen sind ziemlich deutsch. Sprich, der konservative ist Pöttering, ein deutscher CDUler, der Sozialdemokrat ist Schulz, ein deutscher SPDler, der grüne ist Cohn-Bendit, ein deutscher Grüner, das heißt, es ist eh immer alles sehr deutsch geprägt, und was spannend war, ist, dass es bei den Konservativen eine Kampfabstimmung gab, ob man sich für diese privilegierte Partnerschaft oder einen EU-Beitritt mit Bedingungen ausspricht. Die privilegierte Partnerschaft hat knapp gewonnen, aber die Abstimmung wurde frei gegeben, weil ja außer bei der linken Fraktion, wo es ja keinen Fraktionszwang gibt, bei den anderen Fraktionen so was wie ein Fraktionszwang vorhanden ist, das heißt, dass die Minderheit dann gebeten worden ist, sich an die Mehrheitsposition zu halten, aber in diesem Punkt hat man es freigegeben. Und das führte dazu, dass eine ganze Reihe von konservativen Gegenstimmen gegen den Bericht gab zusammen mit einer Reihe von Rechtsextremen, die eindeutig genau diese Motivation hatten, also antiislamisch, rassistisch und so weiter. Ich weiß auch von einigen konservativen Kollegen, dass da durchaus genau so argumentiert wird. es gibt aber bei den Konservativen auch welche, die intelligenter an die Frage rangehen wie der Vorsitzende von meinem Ausschuss, Elmar Brock, der sich zum Beispiel sofort von dem Begriff "privilegierte Partnerschaft distanziert hat. Und mein Eindruck ist der, dass eine ganze Reihe von Vertretern anderer Länder entgeistert die deutsche Debatte anschauen und gleichzeitig ist sie ziemlich präsent gewesen bei der Türkei-Debatte, weil eben die Deutschen so viel zu sagen haben in diesem europäischen Parlament, nicht nur quantitativ, sondern auch durch die Posten, die sie bekommen haben. Also insofern war das präsent. von Seiten der Kommission und von Seiten des Rates, also der damaligen niederländischen Präsidentschaft, wurde diese "privilegierte Partnerschaft" deutlich zurück gewiesen. Da setzt man eher auf das rotgrüne Modell einer geopolitischen Erweiterung der Europäischen Union durch die Türkei und kocht eben die Menschenrechtsfrage runter.

Nächstes Jahr ist ja in Deutschland Bundestagswahl. Ist es aus deiner Sicht zu befürchten, dass die deutschen Konservativen und in ihrem Schlepptau auch die NPD und DVU das Thema EU-Beitritt der Türkei, Islamfeindschaft, christliches Abendland und so, dass das ein dominierendes Wahlkampfthema wird?

Das Spannende ist ja, dass das eine Reihe von Konservativen selbst nicht mitmachen wollen. Die Frage ist halt, wer sich durchsetzt. Das kann ich im Moment sehr schwer einschätzen. Mein Eindruck ist, ein Teil der Konservativen weiß sehr genau, welche Geister sie dann ruft und dass sie selbst diese Geister nicht in den Griff bekommen und dass die Stimmen, die dann mobilisiert werden, nicht bei ihnen abgeladen werden, sondern direkt bei den Rechtsextremen. Und ich würde mal so sagen: Wenn die Konservativen aus CDU und CSU sich entscheiden, das so zu machen, sind sie wesentlich mit Schuld daran, wenn NPD/DVU in den Bundestag kommen. Ich bin gespannt, wie sich das weiterentwickelt, weil ich denke, dass es eine sehr harte Debatte wird und wir von linker Seite, aber auch die Menschenrechtsgruppen sehr deutlich machen müssen, dass wer rassistisch argumentiert, in aller Schärfe kritisiert werden muss und ich bin im Moment noch ziemlich sicher, dass sie es nicht machen werden, aber ich kann mich auch täuschen.

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