»Tote können nicht wählen«

Pressebericht in: Neues Deutschland, 15.02.06

Europaabgeordneter Pflüger warnt vor Militarisierung der Union

Von Olaf Standke

Während sich eine internationale Geberkonferenz in Brüssel bemühte, insgesamt 561 Millionen Euro für Kongo aufzubringen, beriet die Europäische Union gestern über die umstrittene Entsendung von EU-Soldaten.
38 Millionen Euro für humanitäre Hilfe hat die EU zugesagt, was ein Militäreinsatz in der Demokratischen Republik Kongo kosten würde, bleibt ein Geheimnis. Auch für Europaparlamentarier wie Tobias Pflüger, Koordinator der Linksfraktion (GUE/NGL) im Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Er lehnt eine bewaffnete Mission der Union grundsätzlich ab und kritisiert in einem ND-Gespräch zugleich, dass eine Entscheidung darüber jenseits der Kompetenzen des einzig direkt gewählten EU-Organs in den Händen des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) liegt, eines Gremiums des EU-Ministerrats ohne demokratische Legitimation. Mitarbeiter von EU-Chefdiplomat Javier Solana haben nach einer Erkundungsmission ein »Optionspapier« vorbereitet, über das die Botschafter der EU-Staaten gestern berieten. Ursprünglich sollte schon am Freitag eine Entscheidung fallen, doch wollte niemand die Führung des Einsatzes übernehmen.
Offiziell hatten die Vereinten Nationen die Union um Hilfe bei der Absicherung der für Ende April geplanten Wahlen in Kongo gebeten. EU-Soldaten sollen den weltweit größten UN-Einsatz zur Friedenssicherung – im Rahmen der MONUC-Mission sind derzeit 18 600 Blauhelme und Zivilbedienstete stationiert – unterstützen. EU-Truppen könnten danach die Sicherung der Hauptstadt Kinshasa, die Unterstützung kongolesischer Truppen, die Sicherung des Flughafens und die Personenkontrolle übernehmen. Dafür wurden drei Szenarien erarbeitet:
die Entsendung von 250 Soldaten, darunter neben dem Generalstab Aufklärungs- und Sicherungsspezialisten;
die Entsendung von 450 Mann einschließlich Luftwaffeneinheiten;
die Entsendung von insgesamt 1250 Soldaten einschließlich einer schnellen Eingreiftruppe, wobei ein Teil außerhalb Kongos stationiert werden würde.

Nachdem EU-Kampfverbände 2003 schon einmal in Kongo intervenierten, war Brüssel zuletzt mit Polizeieinsätzen (EUSEC und EUPOL-Kinshasa) präsent. Auch hier sei es schwierig, Aufklärung zu erhalten, so Pflüger, nicht zuletzt über die Involvierung von EU-Polizeiausbildern in die tödliche Niederschlagung einer Demonstration in Kinshasa.
Der Europaabgeordnete glaubt, dass die UN-Anfrage vor allem von Paris lanciert wurde, um die Bundesrepublik »mit ins Boot zu bekommen«. Auch wenn der Aufbau der so genannten Battle Groups noch gar nicht abgeschlossen sei, sieht er in den Plänen für einen ersten Einsatz dieser »Schlachttruppen« das Bemühen, die Militarisierung der EU zur Wahrung wirtschaftlicher und politischer Interessen voranzutreiben und die Union als eigenständige Militärmacht zu etablieren.
Dabei ist vor allem der Ausbau der humanitären Hilfe dringend erforderlich, wie Oxfam betont. Das Hilfswerk erinnert an das geringe Echo, das Hilfsappelle in der Vergangenheit hatten. So seien im Vorjahr mit rund 72 Millionen Euro nicht einmal zwei Drittel der notwendigen Gelder zusammengekommen. Gerade Länder wie die USA, Deutschland oder Frankreich müssten ihre Beiträge deutlich aufstocken. Der Demokratisierungsprozess Kongos sei langfristig unerlässlich, aber Millionen Menschen mit ausreichend Wasser und Nahrung zu versorgen und für ihre Sicherheit zu sorgen, müsse jetzt Priorität haben, »weil Tote nicht wählen können«, so Oxfam-Programmmanager Gordon Kihuguru.

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