Die Armut wird noch wachsen
Tagblatt Online, 08.10.2004
Interview mit Tobias Pflüger, Europa-Abgeordneter für den Wahlkreis Tübingen.
Vorbild für das rotgrüne Hartz IV-Projekt ist die 2000 von der EU beschlossene "Lissabon-Strategie"
(tol). In Deutschland wird seit Monaten heftig über Hartz IV diskutiert, Hunderttausende gingen schon dagegen auf die Straße. Was wenige wissen: Ideologischer Vorläufer der rotgrünen Sozialgesetze ist die im Jahre 2000 von der EU beschlossene "Lissabon-Strategie". Wir befragten "unseren Mann in Brüssel", den Tübinger EU-Abgeordneten Tobias Pflüger, über den Zusammenhang zwischen Hartz IV, "Lissabon-Strategie" und anderen geplanten Verschärfungen auf EU-Ebene. Der parteilose Pflüger sitzt für die PDS im europäischen Parlament.
Herr Pflüger, die so genannte Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung ist die deutsche Variante der von den europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 beschlossenen „Lissabon-Strategie“. Europa soll danach bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden. Was heißt das eigentlich konkret?
Pflüger: Die Lissabon-Strategie umfasst sämtliche Maßnahmen zur wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Erneuerung der EU. Im März 2000 hatte der Europäische Rat auf seiner Tagung in Lissabon diese auf zehn Jahre angelegte Strategie vorgelegt, mit deren Hilfe die EU zur „weltweit dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaft" entwickelt werden soll. Im Sinne dieser Strategie soll eine starke Wirtschaft die Schaffung von Arbeitsplätzen vorantreiben und soziale und ökologische Maßnahmen fördern, welche wiederum eine nachhaltige Entwicklung und sozialen Zusammenhalt gewährleisten sollen. So das Selbstbild. In erster Linie ging es den Staats- und Regierungschefs um eine Kampfansage.
Eine Kampfansage? An wen?
Pflüger: Andere „Standorte" in der Welt sollen nieder konkurriert werden, frei nach dem Motto: „Überholen ohne einzuholen“. Entsprechend den Lissabonner Beschlüssen soll bis zum Jahr 2010 Vollbeschäftigung erreicht sein. Dies entspricht nach EU-Lesart einer Erwerbstätigenquote von 70 Prozent, bei Frauen sollen es mindestens 60 Prozent werden. Dazu müssten in den nächsten Jahren 20 Millionen Arbeitsplätze entstehen. Allein daran kann man schon sehen, dass dies schon eine unseriöse Geschichte war. Übrigens: Der designierte Kommissionspräsident Barroso hat erklärt, in seiner Amtszeit habe Lissabon oberste Priorität und Günter Verheugen soll in der EU-Kommission die gesamten Maßnahmen koordinieren.
Wie verläuft die Umsetzung in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Nationen?
Pflüger: Das ist ja das dramatische: Je besser die Umsetzung läuft, je schlechter für alle die es nicht so dicke haben, je schlechter für die Beschäftigten. Denn die Hartz-Gesetze sind Teil der bundesdeutschen Umsetzung der Lissabon-Strategie. Leute sollen auf Teufel komm raus beschäftigt werden, aber eine existenzsichernde Arbeit bedeutet das nicht, sondern viele neue Jobs im Niedriglohnbereich, die tariflich abgesicherte Arbeitsverhältnisse verdrängen oder noch schlimmer Zwangsjobs für einen Euro. Ich verstehe im Übrigen gar nicht warum sich Wohlfahrtsverbände hier zum Büttel dieser menschenverachtenden Maßnahmen machen. Es hat auf jeden Fall mein Bild von DRK, Caritas und AWO schwer erschüttert. Von dem Verdrängungseffekt für das Handwerk gar nicht zu reden. Es ist im übrigen nicht die Europäische Union verantwortlich, sondern die deutsche Bundesregierung. Wahrscheinlich hätten sie die Hartz-Gesetze auch ohne Brüsseler-Beschlüsse eingeführt.
In welchen Punkten hat die Bundesrepublik laut Lissabon- bzw. EU-Vorgabe noch Nachholbedarf? Wo liegt sie im Plan?
Pflüger: Wenn wir uns die Situation hier anschauen: Die Arbeitslosenzahl im September lag bei 4, 257 Millionen, das entspricht einer Quote von 10,3 Prozent. Dann kann ich schon einmal feststellen: Selbst bei dem problematischen Verständnis von Vollbeschäftigung der Lissabon-Strategie hat die Bundesregierung in punkto Beschäftigung einfach nur versagt. Mit den Hartz IV-Gesetzen wird jetzt auch noch diese Unfähigkeit auf dem Rücken von Arbeitssuchenden ausgetragen. Die Drohung „Armut per Gesetz“ soll die Arbeitslosen „aktivieren". Damit wird ja kein einziger neuer existenzsichernder Arbeitsplatz geschaffen. Das macht mich einfach wütend.
Steht im Lissabon-Strategiepapier auch, wie Jobs europaweit geschaffen werden können?
Pflüger: Nein, das ist ja das eigentlich Komische. Dies ist nicht explizit festgehalten. Fest steht nur, dass die Strategie auf zwei Dinge zielen soll: Vollbeschäftigung - und das auf Grundlage von drei Prozent jährlichem Wachstum - mit einer deutlichen Orientierung auf Innovation und wirtschaftliche „Strukturreform“. Im Grunde wurde die Lissabon-Strategie noch einmal entscheidend verändert. Im Jahr 2000 ging es noch um die „New economy“, deswegen konzentrierte man sich vor allem auf Gentechnik, Bioinformatik und Informationstechnologie - wie in den USA. Ein europäisches Finanzmarktregime, sollte genügend Risikokapital zur Verfügung stellen. Mit den drei Prozent Wachstum wurde es dann aber nichts, die Börse ging nach unten. In der Folge waren dann nur noch Durchhalteparolen zu hören: Und auf dem EU-Gipfel 2002 in Barcelona ergab sich eine ganz andere Akzentuierung. Von Blair, Aznar und Berlusconi wurde damals auf eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte hin orientiert und konkrete Maßnahmen verankert: Gegen Frühverrentung, für Arbeitszeitverlängerung und vor allem für Änderungen im Lohngefüge, dass heißt Lohnspreizung nach Kriterien Produktivität und Qualifikation. Zudem wurde fixiert, dass ein „aktivierender“ Sozialstaat das Ziel sein müsse und vor allem, dass Arbeitsrecht und Kündigungsschutz zu lockern seien. Das Idealbild dieser Strategie ist, dass es möglichst nur noch befristete Arbeitsverhältnisse gibt, damit der Lohn besser gedrückt werden kann und die Gewinne von Großunternehmen steigen.
Was kommt auf die Bundesbürger alles noch zu, wenn die EU-Strategie bis 2010 umgesetzt werden muss?
Pflüger: Es geht nicht mehr nur, wie bisher, um eine Privatisierungs- und Deregulierungspolitik - mit ihren ohnehin schon fatalen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme. Jetzt geht es auch noch um eine neue Richtlinie für den Dienstleistungsmarkt (Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungen im Binnenmarkt), die in Brüssel diskutiert wird und dann in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden soll. Das hört sich erst mal gar nicht so dramatisch an, ist aber der größte Angriff auf die Rechte von Beschäftigen und die Sicherung der Leistungen der Daseinsvorsorge, den es bisher über den Weg der EU gab. Wenn das hier ankommt, so wie es die EU plant und die rotgrüne Regierung in Brüssel mit auf den Weg bringt, wird es, wenn es dann hier zulande eingeführt werden wird, die Leute mit aller Wucht treffen. Es wurde zudem ein Rat für Wettbewerbsfähigkeit neu geschaffen. Hier geht es darum die Macht der multinationalen Großkonzerne deutlich zu stärken. Für die Bürgerinnen und Bürger heißt das dann aber, dass es für sie noch schwerer werden wird als bisher und die Umverteilung von unten nach oben noch beschleunigt werden wird.
Pflüger: Im März kommenden Jahres zieht die EU eine Halbzeitbilanz. Wie wird die ausfallen?
Das kann man nicht genau sagen. Wahrscheinlich wird wie bisher alles schöngeredet werden. Alles wird auf die Mitgliedstaaten geschoben werden. Und man fordert weitere Flexibilisierungen. Eine „High Level Expert Group“ unter Vorsitz von Wim Kock hat sich hier schon ans Werk gemacht. Genau genommen ist die Bilanz schon jetzt verheerend. Es wird nicht einmal eine geringe Senkung der Arbeitslosigkeit geben, von Vollbeschäftigung ganz zu schweigen. Und die Armut in der Europäischen Union wird mit Maßnahmen, wie den Hartz-Gesetzen nur noch weiter vergrößert.
Quelle: http://www.tagblatt.de/index.php?artikel_id=511559
Interview mit Tobias Pflüger, Europa-Abgeordneter für den Wahlkreis Tübingen.
Vorbild für das rotgrüne Hartz IV-Projekt ist die 2000 von der EU beschlossene "Lissabon-Strategie"
(tol). In Deutschland wird seit Monaten heftig über Hartz IV diskutiert, Hunderttausende gingen schon dagegen auf die Straße. Was wenige wissen: Ideologischer Vorläufer der rotgrünen Sozialgesetze ist die im Jahre 2000 von der EU beschlossene "Lissabon-Strategie". Wir befragten "unseren Mann in Brüssel", den Tübinger EU-Abgeordneten Tobias Pflüger, über den Zusammenhang zwischen Hartz IV, "Lissabon-Strategie" und anderen geplanten Verschärfungen auf EU-Ebene. Der parteilose Pflüger sitzt für die PDS im europäischen Parlament.
Herr Pflüger, die so genannte Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung ist die deutsche Variante der von den europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 beschlossenen „Lissabon-Strategie“. Europa soll danach bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden. Was heißt das eigentlich konkret?
Pflüger: Die Lissabon-Strategie umfasst sämtliche Maßnahmen zur wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Erneuerung der EU. Im März 2000 hatte der Europäische Rat auf seiner Tagung in Lissabon diese auf zehn Jahre angelegte Strategie vorgelegt, mit deren Hilfe die EU zur „weltweit dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaft" entwickelt werden soll. Im Sinne dieser Strategie soll eine starke Wirtschaft die Schaffung von Arbeitsplätzen vorantreiben und soziale und ökologische Maßnahmen fördern, welche wiederum eine nachhaltige Entwicklung und sozialen Zusammenhalt gewährleisten sollen. So das Selbstbild. In erster Linie ging es den Staats- und Regierungschefs um eine Kampfansage.
Eine Kampfansage? An wen?
Pflüger: Andere „Standorte" in der Welt sollen nieder konkurriert werden, frei nach dem Motto: „Überholen ohne einzuholen“. Entsprechend den Lissabonner Beschlüssen soll bis zum Jahr 2010 Vollbeschäftigung erreicht sein. Dies entspricht nach EU-Lesart einer Erwerbstätigenquote von 70 Prozent, bei Frauen sollen es mindestens 60 Prozent werden. Dazu müssten in den nächsten Jahren 20 Millionen Arbeitsplätze entstehen. Allein daran kann man schon sehen, dass dies schon eine unseriöse Geschichte war. Übrigens: Der designierte Kommissionspräsident Barroso hat erklärt, in seiner Amtszeit habe Lissabon oberste Priorität und Günter Verheugen soll in der EU-Kommission die gesamten Maßnahmen koordinieren.
Wie verläuft die Umsetzung in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Nationen?
Pflüger: Das ist ja das dramatische: Je besser die Umsetzung läuft, je schlechter für alle die es nicht so dicke haben, je schlechter für die Beschäftigten. Denn die Hartz-Gesetze sind Teil der bundesdeutschen Umsetzung der Lissabon-Strategie. Leute sollen auf Teufel komm raus beschäftigt werden, aber eine existenzsichernde Arbeit bedeutet das nicht, sondern viele neue Jobs im Niedriglohnbereich, die tariflich abgesicherte Arbeitsverhältnisse verdrängen oder noch schlimmer Zwangsjobs für einen Euro. Ich verstehe im Übrigen gar nicht warum sich Wohlfahrtsverbände hier zum Büttel dieser menschenverachtenden Maßnahmen machen. Es hat auf jeden Fall mein Bild von DRK, Caritas und AWO schwer erschüttert. Von dem Verdrängungseffekt für das Handwerk gar nicht zu reden. Es ist im übrigen nicht die Europäische Union verantwortlich, sondern die deutsche Bundesregierung. Wahrscheinlich hätten sie die Hartz-Gesetze auch ohne Brüsseler-Beschlüsse eingeführt.
In welchen Punkten hat die Bundesrepublik laut Lissabon- bzw. EU-Vorgabe noch Nachholbedarf? Wo liegt sie im Plan?
Pflüger: Wenn wir uns die Situation hier anschauen: Die Arbeitslosenzahl im September lag bei 4, 257 Millionen, das entspricht einer Quote von 10,3 Prozent. Dann kann ich schon einmal feststellen: Selbst bei dem problematischen Verständnis von Vollbeschäftigung der Lissabon-Strategie hat die Bundesregierung in punkto Beschäftigung einfach nur versagt. Mit den Hartz IV-Gesetzen wird jetzt auch noch diese Unfähigkeit auf dem Rücken von Arbeitssuchenden ausgetragen. Die Drohung „Armut per Gesetz“ soll die Arbeitslosen „aktivieren". Damit wird ja kein einziger neuer existenzsichernder Arbeitsplatz geschaffen. Das macht mich einfach wütend.
Steht im Lissabon-Strategiepapier auch, wie Jobs europaweit geschaffen werden können?
Pflüger: Nein, das ist ja das eigentlich Komische. Dies ist nicht explizit festgehalten. Fest steht nur, dass die Strategie auf zwei Dinge zielen soll: Vollbeschäftigung - und das auf Grundlage von drei Prozent jährlichem Wachstum - mit einer deutlichen Orientierung auf Innovation und wirtschaftliche „Strukturreform“. Im Grunde wurde die Lissabon-Strategie noch einmal entscheidend verändert. Im Jahr 2000 ging es noch um die „New economy“, deswegen konzentrierte man sich vor allem auf Gentechnik, Bioinformatik und Informationstechnologie - wie in den USA. Ein europäisches Finanzmarktregime, sollte genügend Risikokapital zur Verfügung stellen. Mit den drei Prozent Wachstum wurde es dann aber nichts, die Börse ging nach unten. In der Folge waren dann nur noch Durchhalteparolen zu hören: Und auf dem EU-Gipfel 2002 in Barcelona ergab sich eine ganz andere Akzentuierung. Von Blair, Aznar und Berlusconi wurde damals auf eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte hin orientiert und konkrete Maßnahmen verankert: Gegen Frühverrentung, für Arbeitszeitverlängerung und vor allem für Änderungen im Lohngefüge, dass heißt Lohnspreizung nach Kriterien Produktivität und Qualifikation. Zudem wurde fixiert, dass ein „aktivierender“ Sozialstaat das Ziel sein müsse und vor allem, dass Arbeitsrecht und Kündigungsschutz zu lockern seien. Das Idealbild dieser Strategie ist, dass es möglichst nur noch befristete Arbeitsverhältnisse gibt, damit der Lohn besser gedrückt werden kann und die Gewinne von Großunternehmen steigen.
Was kommt auf die Bundesbürger alles noch zu, wenn die EU-Strategie bis 2010 umgesetzt werden muss?
Pflüger: Es geht nicht mehr nur, wie bisher, um eine Privatisierungs- und Deregulierungspolitik - mit ihren ohnehin schon fatalen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme. Jetzt geht es auch noch um eine neue Richtlinie für den Dienstleistungsmarkt (Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungen im Binnenmarkt), die in Brüssel diskutiert wird und dann in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden soll. Das hört sich erst mal gar nicht so dramatisch an, ist aber der größte Angriff auf die Rechte von Beschäftigen und die Sicherung der Leistungen der Daseinsvorsorge, den es bisher über den Weg der EU gab. Wenn das hier ankommt, so wie es die EU plant und die rotgrüne Regierung in Brüssel mit auf den Weg bringt, wird es, wenn es dann hier zulande eingeführt werden wird, die Leute mit aller Wucht treffen. Es wurde zudem ein Rat für Wettbewerbsfähigkeit neu geschaffen. Hier geht es darum die Macht der multinationalen Großkonzerne deutlich zu stärken. Für die Bürgerinnen und Bürger heißt das dann aber, dass es für sie noch schwerer werden wird als bisher und die Umverteilung von unten nach oben noch beschleunigt werden wird.
Pflüger: Im März kommenden Jahres zieht die EU eine Halbzeitbilanz. Wie wird die ausfallen?
Das kann man nicht genau sagen. Wahrscheinlich wird wie bisher alles schöngeredet werden. Alles wird auf die Mitgliedstaaten geschoben werden. Und man fordert weitere Flexibilisierungen. Eine „High Level Expert Group“ unter Vorsitz von Wim Kock hat sich hier schon ans Werk gemacht. Genau genommen ist die Bilanz schon jetzt verheerend. Es wird nicht einmal eine geringe Senkung der Arbeitslosigkeit geben, von Vollbeschäftigung ganz zu schweigen. Und die Armut in der Europäischen Union wird mit Maßnahmen, wie den Hartz-Gesetzen nur noch weiter vergrößert.
Quelle: http://www.tagblatt.de/index.php?artikel_id=511559
Tobias Pflüger - 2004/10/08 16:10
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