Veränderungen im Militärbereich essentiell im Lissabonner Vertrag

Beitrag im Workshop des Unterausschusses Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlamentes,
von Tobias Pflüger (MdEP, Die Linke, GUE/NGL) am Montag 11.02.2008

Ich bin froh, dass wir uns schlussendlich gemeinsam entschieden haben, diesen Workshop öffentlich tagen zu lassen. Der umfangreiche Besuch bestätigt, dass die Anregung dazu von uns richtig war.

Bevor ich zu meinen eigentlichen Fragen und Anmerkungen komme, will ich eine eher allgemeine Fragestellung an die drei Experten voran stellen, die vielleicht eher rhetorischer Natur ist:

Gibt es einen relevanten Unterschied im Bereich der ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) zwischen dem Lissabonner Vertrag und dem EU-Verfassungsvertrag?

Nun zu meinen eigentlichen Fragen, die sehr konkrete Fragen an die geladenen Referenten sind.

Es geht im Wesentlichen um drei Hauptaspekte:

1. Finanzierung der ESVP und Lissabon-Vertrag
2. NATO-EU-Zusammenarbeit und Lissabon-Vertrag
3. Demokratische Kontrolle der ESVP und Lissabon-Vertrag

Zum ersten Punkt (Finanzierung der ESVP und Lissabon-Vertrag):

Bisher wird ein Gutteil der ESVP-Missionen über den so genannten ATHENA-Mechanismus finanziert. Dies u.a. weil die EU-Verträge einen eigenständigen Militärhaushalt der EU bislang richtigerweise nicht vorsehen. Was passiert mit diesem ATHENA-Mechanismus, sollte der Lissabon-Vertrag tatsächlich kommen?

Wir haben ja derzeit das Phänomen, dass über den ATHENA-Mechanismus alle Staaten, die an der militärischen Komponente der EU teilnehmen, auch an der Finanzierung der ESVP-Missionen beteiligt sind, ob sie selbst Soldaten oder Polizisten stellen oder nicht. So zahlt z.B. Deutschland 29 Millionen Euro für den Tschad-Einsatz, obwohl Deutschland keine relevanten Truppen dafür stellt.

Im Lissabonner Vertrag ist ein "Anschubsfond" für so genannte zivile und militärische ESVP-Missionen vorgesehen. Was bedeutet dieser "Anschubsfond" genau? Werden damit Gelder aus dem EU-Haushalt für Militärmissionen genutzt (wovon ich ausgehe) und wie ist das genaue Prozedere mit diesem Anschubsfond?

Zweiter Aspekt: NATO-EU-Zusammenarbeit

Im neuen EU-Vertrag gibt es eine Reihe von Bezügen zur NATO. So heißt es z.B. im Protokoll 4 mit Bezug auf Art. 28a4, die ESVP solle zur "Vitalität eines erneuerten atlantischen Bündnisses beitragen". Nun meine Frage an die Experten: Ist dieser positive Bezug auf die NATO in einem EU-Vertrag hilfreich und was hat er dort zu suchen?

Interessant ist in diesem Kontext auch, dass die schon erwähnte (militärische) Solidaritätsklausel im EU-Vertrag stärker ist, als die Solidaritätsklausel der NATO:

Mein dritter Punkt (Demokratische Kontrolle der ESVP und Lissabon-Vertrag):

Die schon erwähnte "ständige strukturierte Zusammenarbeit" wird im Protokoll 4 detailliert geregelt. Dort heißt es, die EU solle - ich zitiere: "spätestens 2010 über die Fähigkeit (zu) verfügen, entweder als nationales Kontingent oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Gefechtsverband konzipiert sind, über Unterstützung unter anderem für Transport und Logistik verfügen und fähig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen nach Artikel 28b des Vertrags über die Europäische Union aufzunehmen, um insbesondere Ersuchen der Organisation der Vereinten Nationen nachzukommen, und diese Missionen für eine Dauer von zunächst 30 Tagen, die bis auf 120 Tage ausgedehnt werden kann, aufrechtzuerhalten."

Wie Sie wissen, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 geregelt, dass der deutsche Bundestag vor jedem Einsatz deutscher Truppen einen Beschluss fassen muss. Dieser Parlamentsvorbehalt ist ja schwerlich innerhalb von 5 bis 30 Tagen vor einem solchen Einsatz umsetzbar. Im Protokoll 4 des Lissabonner Vertrages gibt es gleichzeitig die Aufforderung, nationale "Beschlussfassungsverfahren" anzupassen. In Deutschland gibt es z.B. vom Staatssekretär Christian Schmidt den Vorschlag "Dauergenehmigungen" für Einsätze der EU-Battle-Groups zu erteilen (vgl. Handelsblatt, 07.01.2007). Sollte der Parlamentsvorbehalt durch die Regelungen zu EU-Battle Groups im Lissabonner Vertrag ausgehöhlt werden, führt das berechtigterweise zu sehr empfindlichen Reaktionen in Deutschland.


Politisch zusammengefasst:

Es ist es schon auffällig, wie der Lissabonner Vertrag, je nachdem wie es politisch opportun ist, eingestuft wird, als "grundlegend neu" oder als "alles schon da gewesen". Der Lissabonner Vertrag ist ein ganz wichtiger Vertrag in der EU-Geschichte, da bin ich dem Kollegen Jo Leinen durchaus dankbar, das noch einmal klar gestellt zu haben. Es ist auf jeden Fall falsch, wie jetzt geschehen bei der Ratifizierung im französischen Parlament, von rein technischen Änderungen zu vorherigen EU-Verträgen zu sprechen. Wir wissen doch alle, dass in Frankreich Referenden und eine Beteiligung der Bevölkerung umgangen wurden, um den Vertrag durchzubekommen.

Durch den Lissabonner Vertrag wird, wenn man nur die drei genannten Beispiele nimmt - es gäbe eine Reihe weiterer - doch sehr Wesentliches im Militärbereich neu geregelt. Im Verhältnis zu anderen Politikbereichen sind diese Veränderungen essentiell. Die Veränderungen im Militärbereich bilden so etwas wie das Rückgrat des Lissabonner Vertrages. Die Veränderungen im Militärbereich sind sowohl für mich als auch für meine Fraktion (GUE/NGL) wesentliche Gründe, warum wir den Lissabonner Vertrag - wie zuvor den EU-Verfassungsvertrag - ablehnen und als keine geeignete vertragliche Grundlage für die EU ansehen.

Link zum Referat von Thomas Roithner:
http://www.thomasroithner.at/cms/images/publikationen/roithner_eu_lisbon_2008.pdf

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