Auf dem Weg zum deutsch-dominierten Kern-Europa - Kommentar zum EU-Gipfel in Brüssel am 23.06.2007
Ein erster Kommentar - wird fortgesetzt, Samstag 23.06.2007, 13.37 Uhr
Von Tobias Pflüger, MdEP
Was wurde in Brüssel beim EU-Gipfel konkret beschlossen?
1. Das Verfahren der Durchsetzung des "neuen" EU-Vertrages
Der EU-Verfassungsvertrag wurde auf dem Brüsseler EU-Gipfel zwar formal beerdigt, inhaltlich allerdings weitestgehend übernommen. Im Kern wurde der Name "Verfassung" zurückgenommen und nun in Grundlagenvertrag umbenannt. Der "neue" Grundlagenvertrag soll nach den Vorgaben des EU-Gipfels von Brüssel nun von einer "Regierungskonferenz" konkret ausgearbeitet werden. Der EU-Gipfel gab einer "Regierungskonferenz" ein Mandat. Diese "Regierungskonferenz" setzt sich aus "Experten" der Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammen. Einzelstaatliche Parlamente und das Europäische Parlament sind am weiteren Verfahren explizit nicht beteiligt. Am Ende der Regierungskonferenz soll ein Beschluss der EU-Regierungschefs am Herbst während der portugiesischen Ratspräsidentschaft stehen.
Nach diesem erneuten EU-Gipfel soll dieser EU-Vertrag von den 27 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden, spätestens jedoch zu Europawahlen 2009. Dabei ist von den EU-Regierungen beabsichtigt - wenn irgend möglich - Referenden (also Abstimmungen und Beteiligungen der Bevölkerungen) zu vermeiden. Ob dies in allen EU-Mitgliedstaaten gelingt, ist doch zweifelhaft, zumindest in Irland und wohl auch in Dänemark sind Referenden verfassungsmäßig vorgeschrieben. Plan ist nun wohl, diese Referenden ans Ende des Ratifizierungsprozess zu stellen, um die Bevölkerungen dort erheblich unter Druck zu setzen.
2. Die Inhalte des "neuen" EU-Vertrages
Die auf dem Brüsseler Gipfel beschlossenen Änderungen
2.1. Mehr Präsidenten in der EU…
In Zukunft soll der Europäische Rat, also der EU-Gipfel für jeweils zweieinhalb Jahre von einem "Präsidenten" geleitet werden. Allerdings soll zugleich die EU-Ratspräsidentschaft, also die Präsidentschaft des normalen Ministerrates, weiterhin alle sechs Monate zwischen den Ministerstaaten nach dem bisherigen Verfahren wechseln. Das bedeutet nichts anderes als die Schaffung eines neuen Präsidentenjobs im Bereich der EU bei Beibehaltung der alten Präsidentenstrukturen…
2.2. Kerneuropa auf Standby
Auf dem EU-Gipfel in Brüssel wurde vereinbart, dass einzelne Staaten (z.B. Großbritannien) aus der engeren Zusammenarbeit z.B. im Bereich der dritten Säule der EU (das meint vor allem die engere Justiz- und Polizeizusammenarbeit) aussteigen können. Selbst für den Bereich der Sozialpolitik ist ein solcher Ausstieg möglich. Und nun kommt ein wesentlicher Punkt: Gibt es nach vier Monaten keine Einigung, können jene Staaten, die das wollen, vorangehen. Dies bedeutet nichts anderes, als die Schaffung eines Kerneuropas auf Standby. Damit haben sich die großen EU-Staaten - vor allem Deutschland - nicht unwesentlich durchgesetzt.
2.3. Militarisierung der EU soll weitergehen u.a. mit einem Außenminister, der nicht so heißen darf.
Im Bereich der Außen- und Militärpolitik gab es die zu erwartenden Regelungen. Die Außen- und Militärpolitik soll "Gegenstand besonderer Verfahrensweisen" sein, was das bedeutet, gilt es die nächste Zeit zu klären. Sowohl EU-Kommission als auch EU-Parlament bekommen keine erweiterten Zuständigkeiten in der Außenpolitik. Das heißt, der EU-Rat kann hier weiterhin - ohne parlamentarische Kontrolle auf EU-Ebene - schalten und walten, wie er das für richtig erachtet. Den geplanten EU-"Außenminister" soll es nun geben, aber er soll nicht so heißen. Sein Titel ist nun: "Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik". Zugleich soll dieser "Hohe Vertreter" auch Vizepräsident der EU-Kommission werden.
2.4. Weniger Kommissare - Teilhabe von (einzelstaatlichen) Parlamenten
Die Zahl der EU-Kommissare soll von zur Zeit 27 auf 15 im Jahr 2014 reduziert werden, was eine Reduzierung der vielen Kleinkommissariate bedeuten wird. Gegen beabsichtigte Rechtsakte der EU sollen in Zukunft innerhalb von acht Wochen einzelstaatliche Parlamente Einspruch erheben können, unter der Voraussetzung, dass sie meinen, dass "nationale Zuständigkeit" verletzt worden sei. Bzgl. des EU-Haushaltes heißt es, dass das Europaparlament zukünftig "gleichberechtigt mit dem Ministerrat" über den EU-Haushalt entscheiden soll.
2.5. Keine Grundrechtscharta für alle
Die trotz ihrer wesentlichen Einschränkungen durch Protokolle im Verfassungsvertrag vielgelobte Grundrechtscharta ist nach dem EU-Gipfel nicht mehr als Teil der EU-Verträge vorgesehen. Es soll nun ein Verweis im geplanten EU-Vertrag auf die Grundrechtscharta geben. Es heißt, damit wäre sie rechtlich ebenso bindend wie der Vertrag selbst. Großbritannien ist bzgl. der Grundrechtscharta ausgenommen.
2.6. Französische Kosmetik des Neoliberalismus
Der neue französische Präsident Nicolas Sarkozy hat aus dem "neuen" EU-Vertrag Formulierungen in Bezug auf freien Wettbewerb und Preisstabilität streichen lassen. Was zu einem Aufschrei der oben-neoliberalen wie dem EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der deutschen FDP geführt hat. Rainer Brüderle erklärte für die FDP: "Aus falscher Harmoniesucht hat die Bundeskanzlerin offenbar das Wettbewerbsprinzip preisgegeben. Das ist ein schlechter Tag für Europa. Der freie Wettbewerb ist ein wesentliches und unverzichtbares Element des europäischen Binnenmarkts. Dieses marktwirtschaftliche Bekenntnis darf nicht Herrn Sarkozy und Frankreich zuliebe geopfert werden. Aufgabe der EU-Wettbewerbspolitik ist es, für funktionierenden Wettbewerb zu sorgen." Die Aufregung ist umsonst, es geht Sakozy nur um kosmetische Änderungen für die Stimmung in Frankreich, an andere Stelle im neuen EU-Vertrag wird es die Verpflichtungen auf Neoliberalismus weiterhin geben.
2.7. Stimmverteilung vertagt und doch nicht vertagt
Die geplanten Vertragsänderungen sollen 2009 in Kraft treten, die geplante "doppelte Mehrheit" bei Abstimmungen im Ministerrat aber erst ab 2014. Bis 2017 können sich Staaten in Streitfällen noch auf den jetzt geltenden Vertrag von Nizza berufen. Bei der "doppelten Mehrheit" werden die Stimmen nicht mehr "gewichtet". Die qualifizierte Mehrheit gilt mit 55 Prozent der Staaten als erreicht, wenn diese mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
3. Zusammenfassung: Alter Wein in neuen Schläuchen
Die wesentlichen Inhalte des EU-Verfassungsvertrages hat Angela Merkel in Geheimdiplomatie "gesichert". Dieses Vorgehen ist nichts anders als ein groß angelegtes Betrugsmanöver an den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten der EU, insbesondere an den Bevölkerungen in Frankreich und den Niederlanden, die den Inhalt des geplanten Vertrages in Referenden schon einmal klar abgelehnt haben. Die Ausrichtung der EU auf Neoliberalismus - "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet" (Art. 177) - und Aufrüstung - "die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art. 41, 3) - werden im geplanten Vertrag beibehalten. Ein grenzüberschreitendes Streikrecht in der EU wird es auch weiterhin nicht geben. Es ist skandalös, dass keine Referenden über den neuen Vertrag vorgesehen sind. Die deutsche Dominanz bei der geplanten Stimmengewichtung im EU-Rat ist und bleibt Fakt.
Somit bleibt es bei einem klaren NEIN zu diesem "neuen" EU-Vertrag.
Von Tobias Pflüger, MdEP
Was wurde in Brüssel beim EU-Gipfel konkret beschlossen?
1. Das Verfahren der Durchsetzung des "neuen" EU-Vertrages
Der EU-Verfassungsvertrag wurde auf dem Brüsseler EU-Gipfel zwar formal beerdigt, inhaltlich allerdings weitestgehend übernommen. Im Kern wurde der Name "Verfassung" zurückgenommen und nun in Grundlagenvertrag umbenannt. Der "neue" Grundlagenvertrag soll nach den Vorgaben des EU-Gipfels von Brüssel nun von einer "Regierungskonferenz" konkret ausgearbeitet werden. Der EU-Gipfel gab einer "Regierungskonferenz" ein Mandat. Diese "Regierungskonferenz" setzt sich aus "Experten" der Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammen. Einzelstaatliche Parlamente und das Europäische Parlament sind am weiteren Verfahren explizit nicht beteiligt. Am Ende der Regierungskonferenz soll ein Beschluss der EU-Regierungschefs am Herbst während der portugiesischen Ratspräsidentschaft stehen.
Nach diesem erneuten EU-Gipfel soll dieser EU-Vertrag von den 27 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden, spätestens jedoch zu Europawahlen 2009. Dabei ist von den EU-Regierungen beabsichtigt - wenn irgend möglich - Referenden (also Abstimmungen und Beteiligungen der Bevölkerungen) zu vermeiden. Ob dies in allen EU-Mitgliedstaaten gelingt, ist doch zweifelhaft, zumindest in Irland und wohl auch in Dänemark sind Referenden verfassungsmäßig vorgeschrieben. Plan ist nun wohl, diese Referenden ans Ende des Ratifizierungsprozess zu stellen, um die Bevölkerungen dort erheblich unter Druck zu setzen.
2. Die Inhalte des "neuen" EU-Vertrages
Die auf dem Brüsseler Gipfel beschlossenen Änderungen
2.1. Mehr Präsidenten in der EU…
In Zukunft soll der Europäische Rat, also der EU-Gipfel für jeweils zweieinhalb Jahre von einem "Präsidenten" geleitet werden. Allerdings soll zugleich die EU-Ratspräsidentschaft, also die Präsidentschaft des normalen Ministerrates, weiterhin alle sechs Monate zwischen den Ministerstaaten nach dem bisherigen Verfahren wechseln. Das bedeutet nichts anderes als die Schaffung eines neuen Präsidentenjobs im Bereich der EU bei Beibehaltung der alten Präsidentenstrukturen…
2.2. Kerneuropa auf Standby
Auf dem EU-Gipfel in Brüssel wurde vereinbart, dass einzelne Staaten (z.B. Großbritannien) aus der engeren Zusammenarbeit z.B. im Bereich der dritten Säule der EU (das meint vor allem die engere Justiz- und Polizeizusammenarbeit) aussteigen können. Selbst für den Bereich der Sozialpolitik ist ein solcher Ausstieg möglich. Und nun kommt ein wesentlicher Punkt: Gibt es nach vier Monaten keine Einigung, können jene Staaten, die das wollen, vorangehen. Dies bedeutet nichts anderes, als die Schaffung eines Kerneuropas auf Standby. Damit haben sich die großen EU-Staaten - vor allem Deutschland - nicht unwesentlich durchgesetzt.
2.3. Militarisierung der EU soll weitergehen u.a. mit einem Außenminister, der nicht so heißen darf.
Im Bereich der Außen- und Militärpolitik gab es die zu erwartenden Regelungen. Die Außen- und Militärpolitik soll "Gegenstand besonderer Verfahrensweisen" sein, was das bedeutet, gilt es die nächste Zeit zu klären. Sowohl EU-Kommission als auch EU-Parlament bekommen keine erweiterten Zuständigkeiten in der Außenpolitik. Das heißt, der EU-Rat kann hier weiterhin - ohne parlamentarische Kontrolle auf EU-Ebene - schalten und walten, wie er das für richtig erachtet. Den geplanten EU-"Außenminister" soll es nun geben, aber er soll nicht so heißen. Sein Titel ist nun: "Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik". Zugleich soll dieser "Hohe Vertreter" auch Vizepräsident der EU-Kommission werden.
2.4. Weniger Kommissare - Teilhabe von (einzelstaatlichen) Parlamenten
Die Zahl der EU-Kommissare soll von zur Zeit 27 auf 15 im Jahr 2014 reduziert werden, was eine Reduzierung der vielen Kleinkommissariate bedeuten wird. Gegen beabsichtigte Rechtsakte der EU sollen in Zukunft innerhalb von acht Wochen einzelstaatliche Parlamente Einspruch erheben können, unter der Voraussetzung, dass sie meinen, dass "nationale Zuständigkeit" verletzt worden sei. Bzgl. des EU-Haushaltes heißt es, dass das Europaparlament zukünftig "gleichberechtigt mit dem Ministerrat" über den EU-Haushalt entscheiden soll.
2.5. Keine Grundrechtscharta für alle
Die trotz ihrer wesentlichen Einschränkungen durch Protokolle im Verfassungsvertrag vielgelobte Grundrechtscharta ist nach dem EU-Gipfel nicht mehr als Teil der EU-Verträge vorgesehen. Es soll nun ein Verweis im geplanten EU-Vertrag auf die Grundrechtscharta geben. Es heißt, damit wäre sie rechtlich ebenso bindend wie der Vertrag selbst. Großbritannien ist bzgl. der Grundrechtscharta ausgenommen.
2.6. Französische Kosmetik des Neoliberalismus
Der neue französische Präsident Nicolas Sarkozy hat aus dem "neuen" EU-Vertrag Formulierungen in Bezug auf freien Wettbewerb und Preisstabilität streichen lassen. Was zu einem Aufschrei der oben-neoliberalen wie dem EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der deutschen FDP geführt hat. Rainer Brüderle erklärte für die FDP: "Aus falscher Harmoniesucht hat die Bundeskanzlerin offenbar das Wettbewerbsprinzip preisgegeben. Das ist ein schlechter Tag für Europa. Der freie Wettbewerb ist ein wesentliches und unverzichtbares Element des europäischen Binnenmarkts. Dieses marktwirtschaftliche Bekenntnis darf nicht Herrn Sarkozy und Frankreich zuliebe geopfert werden. Aufgabe der EU-Wettbewerbspolitik ist es, für funktionierenden Wettbewerb zu sorgen." Die Aufregung ist umsonst, es geht Sakozy nur um kosmetische Änderungen für die Stimmung in Frankreich, an andere Stelle im neuen EU-Vertrag wird es die Verpflichtungen auf Neoliberalismus weiterhin geben.
2.7. Stimmverteilung vertagt und doch nicht vertagt
Die geplanten Vertragsänderungen sollen 2009 in Kraft treten, die geplante "doppelte Mehrheit" bei Abstimmungen im Ministerrat aber erst ab 2014. Bis 2017 können sich Staaten in Streitfällen noch auf den jetzt geltenden Vertrag von Nizza berufen. Bei der "doppelten Mehrheit" werden die Stimmen nicht mehr "gewichtet". Die qualifizierte Mehrheit gilt mit 55 Prozent der Staaten als erreicht, wenn diese mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
3. Zusammenfassung: Alter Wein in neuen Schläuchen
Die wesentlichen Inhalte des EU-Verfassungsvertrages hat Angela Merkel in Geheimdiplomatie "gesichert". Dieses Vorgehen ist nichts anders als ein groß angelegtes Betrugsmanöver an den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten der EU, insbesondere an den Bevölkerungen in Frankreich und den Niederlanden, die den Inhalt des geplanten Vertrages in Referenden schon einmal klar abgelehnt haben. Die Ausrichtung der EU auf Neoliberalismus - "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet" (Art. 177) - und Aufrüstung - "die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art. 41, 3) - werden im geplanten Vertrag beibehalten. Ein grenzüberschreitendes Streikrecht in der EU wird es auch weiterhin nicht geben. Es ist skandalös, dass keine Referenden über den neuen Vertrag vorgesehen sind. Die deutsche Dominanz bei der geplanten Stimmengewichtung im EU-Rat ist und bleibt Fakt.
Somit bleibt es bei einem klaren NEIN zu diesem "neuen" EU-Vertrag.
Tobias Pflüger - 2007/06/23 13:34
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