Korpsgeist und Subkultur

Pressebericht in: Neues Deutschland, 25.01.06

Regelrecht verdroschen: Bürgerrechtler und linke Gruppen kritisieren Polizeigewalt in Berlin

Von Jörg Meyer

Nach Übergriffen von Polizisten auf Demonstranten im vergangenen Jahr fordern Kritiker erneut die Umsetzung des Berliner Koalitionsvertrages: die individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte.
Geknüppelt wurde viel im letzten Jahr. Etwa im Oktober 2005: Auf einer Demonstration gegen den Großen Zapfenstreich stiegen rund zwanzig Beamte in Kampfuniform über eine Absperrung und teilten, während sie quer durch die Menge rannten, Faust- und Knüppelschläge aus. Später verlor ein Zivilbeamter völlig die Beherrschung und drosch regelrecht mit seinem Schlagstock auf Demonstranten ein, während seine Kollegen tatenlos zusahen. Es gab Verletzte, der Beamte wurde versetzt. Gegen ihn und andere ermittelt nun das Landeskriminalamt wegen Körperverletzung im Amt.
Eine Veranstaltung zum »Problem Polizei – Schläger mit Lizenz«, zu der Ende vergangener Woche der parteilose Europaparlamentsabgeordnete Tobias Pflüger und die Antifaschistische Linke Berlin eingeladen hatten, kamen rund 300 Besucher. Volker Ratzmann, Fraktionschef der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, macht »Korpsgeist und Subkultur« in geschlossenen Einheiten der Polizei für Übergriffe verantwortlich. Das führe zusammen mit der mangelnden Identifizierbarkeit des einzelnen Beamten zu einem Gefühl von »mir kann keiner was«. Er fordert die Umsetzung des Koalitionsvertrages zwischen Linkspartei und SPD von 2001. Dort heißt es: »Zur Förderung von Bürgernähe und Transparenz werden Berliner Polizeibeamte eine individualisierbare Kennung gut sichtbar an ihrer Uniform tragen.«
Der Berliner SPD-Polizeipräsident Dieter Glietsch widerspricht Ratzmann. In Einzelfällen könne es durch »extremen Stress« zu Fehlverhalten von Beamten kommen. Einen Korpsgeist gebe es in der Berliner Polizei nicht. Zudem gebe es eine Projektgruppe innerhalb der Polizei, die sich mit dem Thema auseinander setzt.
Für den Politologen Wolf-Dieter Narr, der seit 25 Jahren als Demo-Beobachter unterwegs ist, handelt es sich ohnehin eher um ein »Problem Politik« als ein »Problem Polizei«. Seit den 80er Jahren seien die Befugnisse der Polizei beständig ausgeweitet worden und die Beamten würden in überzogenen Einsätzen das ausführen, was von der Politik gefordert würde.
Ein weiteres Beispiel über Polizei-Brutalität sorgte auch überregional für Schlagzeilen: Ende August war eine Diskothek, in der sich angeblich gewaltbereite Fußballfans getroffen haben sollen, von einem Sondereinsatzkommando gestürmt worden. Mehr als 20 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, Augenzeugen sprachen von unglaublicher Brutalität. Auch in diesem Fall wird ermittelt.
Ein weiteres Problem sei der Rassismus innerhalb der Polizei, sagt Helga Seyb von der Opferberatungsstelle »Reach Out«. Wenn es darum gehe, »Scheinasylanten« zu finden, gebe es halt die Anweisung, vorrangig Menschen mit anderer Hautfarbe zu kontrollieren.
In Berlin gibt es rund 2200 Polizisten in 22 geschlossenen Einsatzhundertschaften. Jede Hundertschaft ist in drei Züge mit bis zu 40 Beamten untergliedert. Die kleinste Einheit ist die Gruppe, die aus bis zu acht Personen besteht. Bisher war mit einer Kennung, bestehend aus einer Zahlenkombination, lediglich die Hundertschaft und der Zug des einzelnen Beamten feststellbar. Im August 2005 kam noch eine weitere Ziffer für die Gruppe dazu. Bürgerrechtsaktivisten hatten die Neuerung begrüßt, aber auch deutlich gemacht, dass das Ziel die individuelle Kennzeichnung sein müsse, da Schläger in Uniform auch in der Gruppe unerkannt bleiben können.
Von jährlich rund 1000 Anzeigen gegen Polizeibeamte führten in den letzten zehn Jahren 1,3 Prozent zu einer Anklage. »Es gibt oft keine Möglichkeit, an die Namen der Polizisten zu kommen, die Straftaten begehen«, sagte Tobias Pflüger. »Wegen der mangelnden Identifizierbarkeit der Polizisten, werden die meisten Verfahren ergebnislos eingestellt.«

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