Trotzdem: Mehr Gerechtigkeit
Pressebericht in: Neues Deutschland, 20.10.06
Die Folgen sind kaum absehbar / Das Entsetzen ging um, Sarrazin greift in seine Spar-Schublade und die Linke ist uneins
Von Karin Nölte
Die Folgen des Karlsruher Richterspruchs werden nicht nur für Berlin immens sein. Und sie werden sich teils erst in Jahren zeigen.
Das Entsetzen ging um in Berlin an diesem Donnerstag ab 10.10 Uhr. Denn das Hoffen auf zusätzliche Bundesgelder zog sich quer durch alle Parteien, keiner sah einen anderen Ausweg aus der Schuldenfalle. Doch statt Geld wurde Zynismus verteilt. »Sexy, weil nicht so arm«, spöttelte Richter Winfried Hassemer mit dem verfälschten Slogan, mit dem »Berlin sich schmückt«. Beobachter werteten dies als verbale Ohrfeige für Klaus Wowereit (SPD), Regierender Bürgermeister, der mit »arm aber sexy« gern für Berlin wirbt. Und das ist auch gut so.
Als »kurzfristige Finanzschwäche« hat der Zweite Senat Berlins Situation charakterisiert. Die »kurze Frist« begann vor etwa 15 Jahren, als Bonn kurzerhand die Finanzhilfen strich und Berlin zur Schuldenaufnahme zwang. Und sie wird noch Jahrzehnte andauern – nach der Verweigerung von Sanierungshilfe vermutlich noch länger als ohnehin befürchtet. Denn Berlin kann mit seinen Einnahmen nicht einmal die Zinszahlungen für die jetzt 61,6 Milliarden Euro Schulden bedienen, geschweige denn den Schuldenberg abbauen. Wowereit kündigte gleich nach dem Urteilsspruch eine mögliche Notwendigkeit neuer Nettokreditaufnahmen an.
Doch Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) klang fast erleichtert: Berlin wisse nun wenigstens, dass es sich nur auf die eigenen Kräfte verlassen muss. Dann nur noch schlechte Nachrichten. Der Sparkurs werde verschärft, gab er die Linie vor. Wo sie hinführt, zeigten seine tabulosen »Denkmodelle« in jüngster Zeit. Etwa: 270 000 Wohnungen in Landeseigentum seien nicht vonnöten, Private müssten nicht unsozialer handeln als die öffentliche Hand. Am Montag will er in der nächsten Koalitionsrunde von SPD und Linkspartei Zahlen präsentieren, wie im Landeshaushalt mit rund 21 Milliarden Euro bis 2011 jährlich 1,5 Milliarden Euro Primärüberschuss zu erzielen wären. Sicher ist: Sarrazin hat sich auf den »worst case« vorbereitet.
Das heißt, weniger auszugeben und mehr einzunehmen. Bis wohin macht die Linke mit? Sarrazin ist zuversichtlich: In der letzten Wahlperiode habe er eher mit der eigenen Partei als mit dem Koalitionspartner Streit ausgefochten. Doch in dieser Linken regt sich Widerstand. Bisher waren vier ihrer Abgeordneten im Landtag gegen eine Neuauflage von Rot-Rot. Gregor Gysi warnte gestern aus dem Bundestag, sich nun verführen zu lassen zu sagen, »dann weitere Schulden, höhere Ausgaben, es soll ja irgendwie wurscht sein«. So nicht! »Es darf weder einen Verkauf von Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge noch weiteren Sozialabbau, Abbau von Investitionen in Wissenschaft und Kultur oder im Bildungsbereich geben. Im Gegenteil: Die Stadt muss sozial gerechter werden und in Bildung investieren.«
Der Kurs des rot-roten Senats habe für die Linke zu einem massiven Vertrauensverlust geführt, »mit neoliberalen Spar- und Privatisierungsfanatikern vom Schlage Sarrazin und Co. darf es keine Neuauflage der Koalition geben«, meinten die Europa- und Bundespolitiker der Linkspartei Sahra Wagenknecht, Tobias Pflüger, Nele Hirsch und Ulla Jelpke. »Jetzt unter dem Vorzeichen einer noch schärferen Spar- und Privatisierungspolitik erneut in die Koalition einzutreten, wäre politischer Selbstmord.«
Obwohl der Senat gespart hat, dass es quietschte, monierte das Gericht eine mangelnde Senkung der Ausgaben. Hamburg soll zum Vorbild für Berlin werden, meint Karlsruhe. Historisch überliefert sind drei Opern, zwei Zoos, vier Universitäten. »Alles muss raus«? Es wäre ein Niedergang für Kultur, Wissenschaft und Tourismus-Wirtschaft.
Zum Schaden der Hohn. Nicht nur von den Geber-Ländern im Westen, auch von den ärmeren Ost-Ländern, die das Urteil über Berlin in der Furche abgewartet haben. Magdeburg: »Wer sich mehr leistet als andere, kriegt nichts«, Erfurt: »Gestärkt wird die Länderhoheit«, Schwerin: »Alles andere wäre konterkarierend«. Das hat alles nichts mit der speziellen Situation Berlins zu tun.
Aufhorchen lässt ein Hinweis von Alt-Bundespräsident Roman Herzog: »Die von Kommunen, Ländern und Bund aufgehäuften Gesamtschulden von 1500 Milliarden Euro sind auch ein Resultat der ›organisierten Verantwor-tungslosigkeit‹ unserer derzeitigen Finanzverfassung.« Das hört sich anders an als die bundesweite Schadenfreude: »Berlin ist selber schuld.«
Aus dem Urteil
»Ein bundesstaatlicher Notstand lässt sich für das Land Berlin derzeit nicht feststellen; es befindet sich nicht in einer extremen Haushaltsnotlage. Aussagekräftige Indikatoren (...) lassen lediglich eine angespannte Haushaltslage für das Land Berlin erkennen, die es mit großer Wahrscheinlichkeit aus eigener Kraft überwinden kann.«
»Das Bundesverfassungsgericht hat eine Überschreitung des Länderdurchschnitts der Zins-Steuer-Quote zumindest um 71,7 v.H. als ein Kriterium zur Feststellung (extremer) Haushaltsnotlagen in zwei konkreten Einzelfällen herangezogen... Die größte negative Abweichung der Zins-Steuer-Quote zum Länderdurchschnitt liegt in der Spitze bei rund 56 v.H. Gemessen an den oben dargelegten Anforderungen kann diese Abweichung erst recht keine übermäßige Belastung Berlins beschreiben.«
»Berlin ist es zwar von 1995 an in keinem Jahr gelungen, einen Primärüberschuss zu erzielen. Indessen zeigen Betrachtungen der Primäreinnahmen und -ausgaben, dass die Berliner Haushaltswirtschaft sich nicht in einer vom Länderdurchschnitt deutlich negativ abweichenden Lage befindet.«
»Abgesehen davon, dass (...) eine extreme Haushaltsnotlage nicht festzustellen ist, bestehen erfolgversprechende Möglichkeiten, aus eigener Kraft die vorhandenen Haushaltsengpässe zu bewältigen. Es ist dem Berliner Senat nicht gelungen, die Alternativlosigkeit von Sanierungshilfen hinreichend plausibel zu begründen.«
»Trotz der guten bis überdurchschnittlichen Höhe der Einnahmen haben etwaige Konsolidierungsbemühungen es jedenfalls in dem Zeitraum zwischen 1995 und 2004 nicht vermocht, die hohen Ausgaben zu reduzieren. Bereits auf Grund dieser globalen Betrachtung sind noch nicht ausgeschöpfte Einsparpotentiale in erheblichem Umfang zu vermuten.«
»Insgesamt kann man daher nicht annehmen, dass das Land Berlin in wenigen Jahren unausweichlich in eine Sondersituation gerät, in der es seine verfassungsmäßigen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann.«
Die Folgen sind kaum absehbar / Das Entsetzen ging um, Sarrazin greift in seine Spar-Schublade und die Linke ist uneins
Von Karin Nölte
Die Folgen des Karlsruher Richterspruchs werden nicht nur für Berlin immens sein. Und sie werden sich teils erst in Jahren zeigen.
Das Entsetzen ging um in Berlin an diesem Donnerstag ab 10.10 Uhr. Denn das Hoffen auf zusätzliche Bundesgelder zog sich quer durch alle Parteien, keiner sah einen anderen Ausweg aus der Schuldenfalle. Doch statt Geld wurde Zynismus verteilt. »Sexy, weil nicht so arm«, spöttelte Richter Winfried Hassemer mit dem verfälschten Slogan, mit dem »Berlin sich schmückt«. Beobachter werteten dies als verbale Ohrfeige für Klaus Wowereit (SPD), Regierender Bürgermeister, der mit »arm aber sexy« gern für Berlin wirbt. Und das ist auch gut so.
Als »kurzfristige Finanzschwäche« hat der Zweite Senat Berlins Situation charakterisiert. Die »kurze Frist« begann vor etwa 15 Jahren, als Bonn kurzerhand die Finanzhilfen strich und Berlin zur Schuldenaufnahme zwang. Und sie wird noch Jahrzehnte andauern – nach der Verweigerung von Sanierungshilfe vermutlich noch länger als ohnehin befürchtet. Denn Berlin kann mit seinen Einnahmen nicht einmal die Zinszahlungen für die jetzt 61,6 Milliarden Euro Schulden bedienen, geschweige denn den Schuldenberg abbauen. Wowereit kündigte gleich nach dem Urteilsspruch eine mögliche Notwendigkeit neuer Nettokreditaufnahmen an.
Doch Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) klang fast erleichtert: Berlin wisse nun wenigstens, dass es sich nur auf die eigenen Kräfte verlassen muss. Dann nur noch schlechte Nachrichten. Der Sparkurs werde verschärft, gab er die Linie vor. Wo sie hinführt, zeigten seine tabulosen »Denkmodelle« in jüngster Zeit. Etwa: 270 000 Wohnungen in Landeseigentum seien nicht vonnöten, Private müssten nicht unsozialer handeln als die öffentliche Hand. Am Montag will er in der nächsten Koalitionsrunde von SPD und Linkspartei Zahlen präsentieren, wie im Landeshaushalt mit rund 21 Milliarden Euro bis 2011 jährlich 1,5 Milliarden Euro Primärüberschuss zu erzielen wären. Sicher ist: Sarrazin hat sich auf den »worst case« vorbereitet.
Das heißt, weniger auszugeben und mehr einzunehmen. Bis wohin macht die Linke mit? Sarrazin ist zuversichtlich: In der letzten Wahlperiode habe er eher mit der eigenen Partei als mit dem Koalitionspartner Streit ausgefochten. Doch in dieser Linken regt sich Widerstand. Bisher waren vier ihrer Abgeordneten im Landtag gegen eine Neuauflage von Rot-Rot. Gregor Gysi warnte gestern aus dem Bundestag, sich nun verführen zu lassen zu sagen, »dann weitere Schulden, höhere Ausgaben, es soll ja irgendwie wurscht sein«. So nicht! »Es darf weder einen Verkauf von Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge noch weiteren Sozialabbau, Abbau von Investitionen in Wissenschaft und Kultur oder im Bildungsbereich geben. Im Gegenteil: Die Stadt muss sozial gerechter werden und in Bildung investieren.«
Der Kurs des rot-roten Senats habe für die Linke zu einem massiven Vertrauensverlust geführt, »mit neoliberalen Spar- und Privatisierungsfanatikern vom Schlage Sarrazin und Co. darf es keine Neuauflage der Koalition geben«, meinten die Europa- und Bundespolitiker der Linkspartei Sahra Wagenknecht, Tobias Pflüger, Nele Hirsch und Ulla Jelpke. »Jetzt unter dem Vorzeichen einer noch schärferen Spar- und Privatisierungspolitik erneut in die Koalition einzutreten, wäre politischer Selbstmord.«
Obwohl der Senat gespart hat, dass es quietschte, monierte das Gericht eine mangelnde Senkung der Ausgaben. Hamburg soll zum Vorbild für Berlin werden, meint Karlsruhe. Historisch überliefert sind drei Opern, zwei Zoos, vier Universitäten. »Alles muss raus«? Es wäre ein Niedergang für Kultur, Wissenschaft und Tourismus-Wirtschaft.
Zum Schaden der Hohn. Nicht nur von den Geber-Ländern im Westen, auch von den ärmeren Ost-Ländern, die das Urteil über Berlin in der Furche abgewartet haben. Magdeburg: »Wer sich mehr leistet als andere, kriegt nichts«, Erfurt: »Gestärkt wird die Länderhoheit«, Schwerin: »Alles andere wäre konterkarierend«. Das hat alles nichts mit der speziellen Situation Berlins zu tun.
Aufhorchen lässt ein Hinweis von Alt-Bundespräsident Roman Herzog: »Die von Kommunen, Ländern und Bund aufgehäuften Gesamtschulden von 1500 Milliarden Euro sind auch ein Resultat der ›organisierten Verantwor-tungslosigkeit‹ unserer derzeitigen Finanzverfassung.« Das hört sich anders an als die bundesweite Schadenfreude: »Berlin ist selber schuld.«
Aus dem Urteil
»Ein bundesstaatlicher Notstand lässt sich für das Land Berlin derzeit nicht feststellen; es befindet sich nicht in einer extremen Haushaltsnotlage. Aussagekräftige Indikatoren (...) lassen lediglich eine angespannte Haushaltslage für das Land Berlin erkennen, die es mit großer Wahrscheinlichkeit aus eigener Kraft überwinden kann.«
»Das Bundesverfassungsgericht hat eine Überschreitung des Länderdurchschnitts der Zins-Steuer-Quote zumindest um 71,7 v.H. als ein Kriterium zur Feststellung (extremer) Haushaltsnotlagen in zwei konkreten Einzelfällen herangezogen... Die größte negative Abweichung der Zins-Steuer-Quote zum Länderdurchschnitt liegt in der Spitze bei rund 56 v.H. Gemessen an den oben dargelegten Anforderungen kann diese Abweichung erst recht keine übermäßige Belastung Berlins beschreiben.«
»Berlin ist es zwar von 1995 an in keinem Jahr gelungen, einen Primärüberschuss zu erzielen. Indessen zeigen Betrachtungen der Primäreinnahmen und -ausgaben, dass die Berliner Haushaltswirtschaft sich nicht in einer vom Länderdurchschnitt deutlich negativ abweichenden Lage befindet.«
»Abgesehen davon, dass (...) eine extreme Haushaltsnotlage nicht festzustellen ist, bestehen erfolgversprechende Möglichkeiten, aus eigener Kraft die vorhandenen Haushaltsengpässe zu bewältigen. Es ist dem Berliner Senat nicht gelungen, die Alternativlosigkeit von Sanierungshilfen hinreichend plausibel zu begründen.«
»Trotz der guten bis überdurchschnittlichen Höhe der Einnahmen haben etwaige Konsolidierungsbemühungen es jedenfalls in dem Zeitraum zwischen 1995 und 2004 nicht vermocht, die hohen Ausgaben zu reduzieren. Bereits auf Grund dieser globalen Betrachtung sind noch nicht ausgeschöpfte Einsparpotentiale in erheblichem Umfang zu vermuten.«
»Insgesamt kann man daher nicht annehmen, dass das Land Berlin in wenigen Jahren unausweichlich in eine Sondersituation gerät, in der es seine verfassungsmäßigen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann.«
Tobias Pflüger - 2006/10/31 13:50
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