Traumjob statt Job-Trauma
Boris Palmer wurde gestern im "Museum" als OB vereidigt / Klimaschutz und Krippenplätze
in Schwäbisches Tagblatt, 12.01.2007, Von Volker Rekittke
TÜBINGEN. Boris Palmer ist Tübingens neuer Oberbürgermeister. Bald tausend Gäste, darunter viel Prominenz aus Tübingen und dem ganzen Land, kamen gestern ins "Museum" zur Vereidigung des jüngsten OB im Südwesten. Schon 20 Minuten vor Beginn der Ratssitzung mussten die Türen des großen Kinosaals wegen drohender Überfüllung geschlossen werden. Drinnen skizzierte der grüne OB, unterstützt vom Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer (SPD), seine globalen Visionen fürs Lokale: Klimaschutz und solares Bauen, soziale Stadt und Solidarität weltweit (siehe Bilderseite 25 und weitere Berichte im vorderen Teil unserer Zeitung).
"Die Sonne geht auf" spielte der Musikverein Derendingen draußen im Foyer. Ein paar Meter weiter entrollten Bewohner des von Räumung bedrohten Wohnprojekts Ludwigstraße 15 ihr Banner: "Legalize Lu 15". Etliche Besucher schrieben dem "lieben Boris" Glückwünsche ins ausgelegte Gästebuch: "Eigentlich sollte man Dir etwas schenken, ich schenke Dir Vertrauen." Kurz vor halb Acht wurde der Kinosaal geöffnet, zwanzig Minuten später ging schon nichts mehr. Nur, wer eine Karte für einen der 150 reservierten Plätze vorweisen konnte, wurde durchgelassen. Gut 700 Gäste, etliche davon stehend, erlebten schließlich mit, wie Stadträtin Gretel Schwägerle (CDU) Palmer die goldene Amtskette um den Hals hängte (Inschrift: "Tubinga honorat amicum" - "Tübingen ehrt den Freund"). Die später kommenden Besucher, etwa 250, mussten in die Säle im Obergeschoss ausweichen, wo die Amtseinführung auf großer Videoleinwand übertragen wurde.
So viel (politische) Prominenz sah man bei einem kommunalpolitischen Ereignis in Tübingen selten - vielleicht sogar noch nie: Allein elf Bundestagsabgeordnete, dazu neun Landtagsabgeordnete aller Fraktionen, ein Europa-Parlamentarier sowie zwei Dutzend (Ober)-Bürgermeister/innen von Konstanz bis Stuttgart, von Horb bis Ravensburg waren gestern im "Museum" versammelt. Außerdem der Tübinger Regierungspräsident und die Landräte von Tübingen und Reutlingen, Uni-Rektor und Klinikums-Chef, evangelische Dekanin und ihr katholisches Pendant.
Ein König im Museum
Nicht zu vergessen: das einstige grüne Schwergewicht Rezzo Schlauch - und: Seine Majestät Kabiessi El-Hadj Sheriff Issa Nassirou Bouraïma - König von Benin (der allerdings in der westafrikanischen Republik mit ihrem gewählten Präsidenten keine offizielle Funktion ausübt). Die Tübingerin Elfi Singer-Zagaria hatte ihren blaublütigen Freund, der in Stuttgart studiert hat und gut Deutsch spricht, zur Palmer-Vereidigung mitgenommen.
Punkt 19 Uhr betrat Palmer gemeinsam mit Hermann Scheer den Kinosaal. Kurzer Szenenapplaus und Blitzlichtgewitter, dann eine letzte Atempause bei ruhigen Klängen des Bläserquintetts der Tübinger Musikschule. Der Erste Bürgermeister Michael Lucke verriet dem erwartungsvollen Publikum, dass es "in eine Gemeinderatssitzung geraten" war. Für diese erste im neuen Jahr war gerade mal eine halbe Stunde veranschlagt. Dem 34-jährigen Palmer gab Lucke mit auf den Weg: "Amt und Würde werden nicht so leicht zu trennen sein - wie Sie ja schon in den letzten Wochen erlebt haben."
Wenn das der Vater wüsste
"Dass Sie kein Job-Trauma sondern Ihren Traumjob im Tübinger Rathaus finden", wünschte Stadträtin Schwägerle dem grünen Senkrechtstarter. Und natürlich das "viel gepriesene Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Tübingern". Regierungspräsident Hermann Strampfer überbrachte "Grüße und Glückwünsche" von Ministerpräsident Günther Oettinger und hatte auch ein Bonbon dabei: Das RP unterstützt den städtischen Antrag auf Landes-Fördermittel zur Aufwertung des östlichen Randes der Tübinger Altstadt. Dass Palmer den Eurosolar-Vorsitzen den Scheer um die Festrede gebeten hatte, wertete Strampfer als "Reverenz an Ihren Vater": Der vor zwei Jahren verstorbene Remstalrebell Helmut Palmer ist mit Scheer freundschaftlich verbunden gewesen.
Es mache ihn "schon etwas traurig", sagte Boris Palmer in seiner ersten Gemeinderats -Ansprache als OB, "dass mein Vater diesen Tag nicht erleben konnte". Aber was der wohl gesagt hätte, wenn der Sohn abends mit den Worten nach Hause gekommen wäre: "Ich bin jetzt Beamter!" - "Na, ich weiß nicht. . ." sagte Palmer in anhaltendes Gelächter und donnernden Applaus hinein. Drei Tonnen Kohlendioxid Kindergärten, Krippen und Schulen, Sportplätze und Radwege: "Es gibt viel zu tun", so Palmer. Doch nicht nur in Tübingen. Denn der Klimawandel schreite voran, der weltweite Reichtum sei ungerecht verteilt. Weshalb der neue OB eine Städtepartnerschaft mit einer Kommune in Afrika, "dem vergessenen Kontinent", vorschlug - und eine Senkung des derzeitigen Kohlendioxid-Verbrauchs in Tübingen von zehn Tonnen pro Kopf und Jahr auf "klimaverträgliche drei Tonnen bis 2020".
"Think global, act local" ("Denk’ global, handle lokal") war auch Scheers Motto, der die globale Ressourcenverschwendung und Zerstörung der Biosphäre geißelte, bevor er kommunale Strategien vorstellte: Tübingen habe dank Uni ein solides wissenschaftliches Fundament sowie "Vorzeige-Stadtwerke mit großem Entwicklungspotenzial", etwa bei der
Förderung regenerativer Energien, als Kraftstoffproduzent oder beim "solaren Bauen" und Nullenergie-Häusern.
Der Träger des alternativen Nobelpreises war kaum zu Bremsen. Lucke musste ihm schließlich die grüne Karte zeigen: Um 21 Uhr wurde am Ort der Amtseinführung das Blaublut-Epos "Die Queen" gezeigt. Und das Fest ging in den oberen Sälen weiter.
in Schwäbisches Tagblatt, 12.01.2007, Von Volker Rekittke
TÜBINGEN. Boris Palmer ist Tübingens neuer Oberbürgermeister. Bald tausend Gäste, darunter viel Prominenz aus Tübingen und dem ganzen Land, kamen gestern ins "Museum" zur Vereidigung des jüngsten OB im Südwesten. Schon 20 Minuten vor Beginn der Ratssitzung mussten die Türen des großen Kinosaals wegen drohender Überfüllung geschlossen werden. Drinnen skizzierte der grüne OB, unterstützt vom Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer (SPD), seine globalen Visionen fürs Lokale: Klimaschutz und solares Bauen, soziale Stadt und Solidarität weltweit (siehe Bilderseite 25 und weitere Berichte im vorderen Teil unserer Zeitung).
"Die Sonne geht auf" spielte der Musikverein Derendingen draußen im Foyer. Ein paar Meter weiter entrollten Bewohner des von Räumung bedrohten Wohnprojekts Ludwigstraße 15 ihr Banner: "Legalize Lu 15". Etliche Besucher schrieben dem "lieben Boris" Glückwünsche ins ausgelegte Gästebuch: "Eigentlich sollte man Dir etwas schenken, ich schenke Dir Vertrauen." Kurz vor halb Acht wurde der Kinosaal geöffnet, zwanzig Minuten später ging schon nichts mehr. Nur, wer eine Karte für einen der 150 reservierten Plätze vorweisen konnte, wurde durchgelassen. Gut 700 Gäste, etliche davon stehend, erlebten schließlich mit, wie Stadträtin Gretel Schwägerle (CDU) Palmer die goldene Amtskette um den Hals hängte (Inschrift: "Tubinga honorat amicum" - "Tübingen ehrt den Freund"). Die später kommenden Besucher, etwa 250, mussten in die Säle im Obergeschoss ausweichen, wo die Amtseinführung auf großer Videoleinwand übertragen wurde.
So viel (politische) Prominenz sah man bei einem kommunalpolitischen Ereignis in Tübingen selten - vielleicht sogar noch nie: Allein elf Bundestagsabgeordnete, dazu neun Landtagsabgeordnete aller Fraktionen, ein Europa-Parlamentarier sowie zwei Dutzend (Ober)-Bürgermeister/innen von Konstanz bis Stuttgart, von Horb bis Ravensburg waren gestern im "Museum" versammelt. Außerdem der Tübinger Regierungspräsident und die Landräte von Tübingen und Reutlingen, Uni-Rektor und Klinikums-Chef, evangelische Dekanin und ihr katholisches Pendant.
Ein König im Museum
Nicht zu vergessen: das einstige grüne Schwergewicht Rezzo Schlauch - und: Seine Majestät Kabiessi El-Hadj Sheriff Issa Nassirou Bouraïma - König von Benin (der allerdings in der westafrikanischen Republik mit ihrem gewählten Präsidenten keine offizielle Funktion ausübt). Die Tübingerin Elfi Singer-Zagaria hatte ihren blaublütigen Freund, der in Stuttgart studiert hat und gut Deutsch spricht, zur Palmer-Vereidigung mitgenommen.
Punkt 19 Uhr betrat Palmer gemeinsam mit Hermann Scheer den Kinosaal. Kurzer Szenenapplaus und Blitzlichtgewitter, dann eine letzte Atempause bei ruhigen Klängen des Bläserquintetts der Tübinger Musikschule. Der Erste Bürgermeister Michael Lucke verriet dem erwartungsvollen Publikum, dass es "in eine Gemeinderatssitzung geraten" war. Für diese erste im neuen Jahr war gerade mal eine halbe Stunde veranschlagt. Dem 34-jährigen Palmer gab Lucke mit auf den Weg: "Amt und Würde werden nicht so leicht zu trennen sein - wie Sie ja schon in den letzten Wochen erlebt haben."
Wenn das der Vater wüsste
"Dass Sie kein Job-Trauma sondern Ihren Traumjob im Tübinger Rathaus finden", wünschte Stadträtin Schwägerle dem grünen Senkrechtstarter. Und natürlich das "viel gepriesene Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Tübingern". Regierungspräsident Hermann Strampfer überbrachte "Grüße und Glückwünsche" von Ministerpräsident Günther Oettinger und hatte auch ein Bonbon dabei: Das RP unterstützt den städtischen Antrag auf Landes-Fördermittel zur Aufwertung des östlichen Randes der Tübinger Altstadt. Dass Palmer den Eurosolar-Vorsitzen den Scheer um die Festrede gebeten hatte, wertete Strampfer als "Reverenz an Ihren Vater": Der vor zwei Jahren verstorbene Remstalrebell Helmut Palmer ist mit Scheer freundschaftlich verbunden gewesen.
Es mache ihn "schon etwas traurig", sagte Boris Palmer in seiner ersten Gemeinderats -Ansprache als OB, "dass mein Vater diesen Tag nicht erleben konnte". Aber was der wohl gesagt hätte, wenn der Sohn abends mit den Worten nach Hause gekommen wäre: "Ich bin jetzt Beamter!" - "Na, ich weiß nicht. . ." sagte Palmer in anhaltendes Gelächter und donnernden Applaus hinein. Drei Tonnen Kohlendioxid Kindergärten, Krippen und Schulen, Sportplätze und Radwege: "Es gibt viel zu tun", so Palmer. Doch nicht nur in Tübingen. Denn der Klimawandel schreite voran, der weltweite Reichtum sei ungerecht verteilt. Weshalb der neue OB eine Städtepartnerschaft mit einer Kommune in Afrika, "dem vergessenen Kontinent", vorschlug - und eine Senkung des derzeitigen Kohlendioxid-Verbrauchs in Tübingen von zehn Tonnen pro Kopf und Jahr auf "klimaverträgliche drei Tonnen bis 2020".
"Think global, act local" ("Denk’ global, handle lokal") war auch Scheers Motto, der die globale Ressourcenverschwendung und Zerstörung der Biosphäre geißelte, bevor er kommunale Strategien vorstellte: Tübingen habe dank Uni ein solides wissenschaftliches Fundament sowie "Vorzeige-Stadtwerke mit großem Entwicklungspotenzial", etwa bei der
Förderung regenerativer Energien, als Kraftstoffproduzent oder beim "solaren Bauen" und Nullenergie-Häusern.
Der Träger des alternativen Nobelpreises war kaum zu Bremsen. Lucke musste ihm schließlich die grüne Karte zeigen: Um 21 Uhr wurde am Ort der Amtseinführung das Blaublut-Epos "Die Queen" gezeigt. Und das Fest ging in den oberen Sälen weiter.
Tobias Pflüger - 2007/01/12 14:41
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