Ein Hubschrauber hoch im grauen Himmel
Pressebericht in: Freitag, Nr. 23, 08.06.2007
Marina Achenbach
80.000 IN ROSTOCK. Gab es je wirklich eine Entscheidung für den so genannten Deeskalationskurs, dessen Scheitern schadenfroh proklamiert wird?
Von irgendwoher Trommeln - kein Marsch, sondern vielfältige Rhythmen. Es mischt sich mit Polizeisirenen. Drehen wieder Kolonnen von Polizei-"Wannen" ihre Runden? Nie weiß man, woher, wohin, wozu. Genauso wenig wie bei den Trupps in Grün, Schwarz, Blau, mit Helmen, Visieren, Schutzwesten, Kameras, Pistolen, Schlagstöcken, schwarzen dicken Handschuhen. Und nun wieder ein Hubschrauber, der Terror seines Krachs. Pardon, ich will mich hier nicht mit der Polizei befassen, und nun fängt der Artikel doch mit ihr an. Ich will sie wieder hinter mir lassen, will mir die Demonstration vergegenwärtigen und die Spannung des Ausnahmezustands wegdrängen. In Rostock ist das nicht so leicht.
Am Morgen des Samstags, an dem sich 80.000 auf den Weg machen, sind die seit Tagen allgegenwärtigen Polizeitrupps aus dem Blickfeld verschwunden. Ein Hubschrauber hoch im grauen Himmel. Auf dem zentralen Neuen Markt sammelt sich eine Gruppe mit großen roten Ballons, Aktion für die Entschuldung Afrikas. Zwei Männer tragen auf ihren Schultern eine Stange mit den lebensgroßen Acht, die wie Hampelmänner hin und her schlenkern. Zum Bahnhof ziehen immer dichter Grüppchen und Einzelne zu einem der beiden Ausgangspunkte der Demonstration. In der Bahnhofsunterführung wird es eng, die Masse kommt nur millimeterweise voran, einige aus der Clownsarmy machen ihre überdrehten Scherze, für die sie ein verlegenes Lächeln ernten. Später werden sie die Polizisten zum Kochen bringen und weiter hüpfen.
Beim Auftauchen aus dem Tunnel ein toller Anblick: der weite, kahle Platz hinterm Bahnhof voller Menschen mit Fahnen, Transparenten, Tafeln. "G 8 gebt 8" ist zu lesen, eine Schülergruppe umsteht ihr Schild "Der Reichtum der Erde ist für alle da, nicht nur für G 8". Punks sitzen um ein Tuch herum, das sie mit Bierflaschen beschwert haben, darauf steht "Ham die da oben Stroh oder Scheiße im Kopf?" Puppen, die zwei Meter groß sind, lehnen an einem Geländer, Drachen und meterlange nimmersatte Raupen werden bewegt, Regenbogenfahnen liegen über Schultern. Alles flattert im Ostseewind.
An einer Jacke klein das Pappschild "G 8 ist Gewalt/Ich bin bereit" - der Träger mit dichtem grauem Schopf grinst zufrieden über meine Aufmerksamkeit. Kinder sind da, die Generationen sind gemischt, das fällt auf wie bei der Demonstration gegen den drohenden Irak-Krieg am 15. Februar 2003 in Berlin. Es sind Jugendliche, Schülergruppen, Punks, bürgerliche Paare, grauhaarige Routiniers, deren Anoraks, Rucksäcke und Turnschuhe sich schon in etlichen Demo-Kilometern bei Hitze oder Regen bewährt haben. Manche beobachten zaghaft und introvertiert, andere fühlen sich hier unter Gleichgesinnten gut. Alle nehmen die Atmosphäre auf, sie ist an diesem Ort und an diesem Beginn voll Enthusiasmus, ganz einfach über diese Menge an Menschen. Sie waren erwartet, aber niemand hätte sie voraussagen können.
Musik kommt aus der Konserve, nur getrommelt wird kunstvoll. Das Selbst-Singen scheint abgeschafft. Doch Freude gibt es, in der Stimme von Tobias Pflüger tönt sie ungebremst: "Wir sind viele, sehr viele! Ich beglückwünsche euch", ruft der Europaabgeordnete. "Wir sind international. Das Gegenteil von den Nazis, die von Schwerin herkommen wollen. Gerade war ich bei der Gerichtsverhandlung über den Flughafen Laage, noch ist nichts entschieden, doch wir werden ihn in jedem Fall blockieren, wir werden ihnen wirkliche Probleme schaffen, werden ein Zeichen geben, aber ihnen nicht die Bilder von Gewalt liefern, die Schäuble und die anderen wollen. Die Gewalttäter sitzen in Heiligendamm, sie sind es, auf die 90 Prozent der Rüstungsausgaben der Welt fallen."
Mit erhobenen Händen der Polizei entgegen
Es braucht Zeit, bis diese große Menge zu einem Zug wird, der sich in die Stadt bewegt. Von der anderen Seite werden später Demonstranten hinzu stoßen, die mit Bussen angereist sind. Hunderte Busse, ein Stück Autobahn ist ihr Parkplatz. Heute wird nur noch in Hunderten und Tausenden gezählt. Drei Freunde aus Köln erzählen, dass sie am Vorabend gefeiert und um Mitternacht beschlossen haben, doch noch zur Demo zu fahren. Mit einem Nachtzug über Hamburg erreichen sie das Ziel.
An den dicken Mauern von St. Marien steht Pfarrer Jens Langer, der bis vor einigen Jahren die Gemeinde dieser großen, zentralen Kirche betreute. Hier gab es zum Auftakt des Protestes einen Mittags-Gottesdienst mit 2.000 Besuchern. Jetzt betrachtet Jens Langer den Zug. "Ich sehe sehr viel Intelligenz, Phantasie, Kompetenz, Politikfähigkeit - und das alles hat dieser Staat abgeschrieben", sagt er. "Welche Vergeudung an Möglichkeiten für die Gesellschaft!"
Zweimal kommt die Demo an kaputt geschlagenen Scheiben vorbei - das gibt es also auch, eine dumme Lust, die jemand im Windschatten des riesigen Zuges auslebt. So scheint es. Da offenbar keine Polizei eingegriffen hat, bleibt es eine Randerscheinung ohne Tumult.
Endlich strömen die Demonstranten ins Gelände des Stadthafens, eine staubige, steinige Fläche mit Bühne, Zirkuszelt und Ständen, durch hohe Gitter vom Wasser getrennt. Am Kai liegt das zum Treffpunkt umfunktionierte Schiff der DDR-Fischfangflotte, die legendäre Stubnitz, daneben die prächtigen Segelschiffe von Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen und zwei Schiffe aus Dänemark. Die ersten Reden sind ganz von der Idee einer anderen Welt bestimmt. Doch eine eigenartige Mattigkeit scheint über die Tausenden gekommen zu sein, eine Art Ernst, die Haltung des Abwartens. Und das bevor die Steine fliegen und die Polizisten-Schwärme eindringen, bevor der erste Wasserwerfer mit hohem Tempo und zwei ungeheuren Strahlen in die Menge fährt, die Leute diagonal über den Platz rennen, während andere mit erhobenen Händen der Polizei entgegen gehen oder die Steinewerfer zu stoppen versuchen. Lange bevor die schwarze Rauchsäule von dem brennenden Auto aufsteigt und die Feuerwehr stecken bleibt, ist die Stimmung verändert. Die Beobachtung machen auch andere, eine Erklärung fehlt. Die Freude scheint verflogen. Vielleicht zerrt der Hubschrauber an den Nerven, der ständig dicht über der Menge kreist und gegen den die Lautsprecher kaum ankommen.
Als die Konflikte beginnen, nimmt Christoph Kleine, einer der Organisatoren, das Mikro und beschwört die riesige Menschenmasse, vernünftig zu reagieren: "Es läuft nicht so wie gedacht, aber lassen wir uns jetzt nicht trennen. Lassen wir uns nicht provozieren - unser Bündnis muss jetzt halten - rückt zusammen. Lasst die Feuerwehr ihre Arbeit machen! Die Vielfalt und der Zusammenhalt der Bewegung sind unser Erfolg - an die Polizei: Ziehen Sie den Wasserwerfer zurück - verlassen Sie das Gelände - ich fordere die Polizei flehend (so habe ich dieses Wort gehört, vielleicht täusche ich mich) auf, mit der Provokation Schluss zu machen - bleibt zusammen - keine Panik - hört an den Rändern mit den Scharmützeln auf. Bildet Ketten. Seid solidarisch ..."
Von nun an erleben alle, die dabei sind, die Dinge unterschiedlich, je nach Position auf dem großen Platz und je nach Augenblick. In der Nacht, die folgt, tauschen sie in den Camps, den Bussen und Zügen, an den Bildschirmen ihre Beobachtungen aus und rekonstruieren die Ereignisse. Die meisten machen es sich nicht leicht, sie belasten nicht allein die Polizei. Auch Tim Laumeyer, ein Sprecher der autonomen Gruppen, die unter dem Slogan Make Capitalism History dabei waren, bedauert gegenüber der Presse die Eskalation und die Verletzung von Menschen. Alle fragen danach, ob im so genannten schwarzen Block die Konfrontation geplant wurde, ob es ein Störmanöver sein sollte gegen das große Bündnis, wie es vorher nie zustande gekommen war. Oder ob unpolitische Hooligans die Szene bestimmten.
Am Ende dieses Tages fällt Monty Schädel, der Rostocker Demo-Organisator, hinter der Bühne erschöpft auf einen Stuhl und sagt, die Augen verschwollen von Tränengas: "Und das war erst der erste Tag."
Die Bischöfin zitiert den Propheten Jeremia
Sonntag früh flackern im schönen Münster von Bad Doberan Tausende Kerzen. Zur Mahnung an die 30.000 Kinder, die jeden Tag aus Armut sterben, werden von hier aus ebenso viele Kerzen an hundert Kirchengemeinden an der Nord- und Ostseeküste verteilt, um sie am Dienstag, wenn die G 8 eintreffen, anzuzünden. Sie sollen brennen zum "Heiligen Damm des Gebets", das den Gipfel Tag und Nacht begleiten wird. Die Christen können sich auf die menschliche Verantwortung für die universale Welt berufen, wenn sie gegen die Macht der acht reichsten Staaten anreden. Wobei sie heftige interne Auseinandersetzungen über den Protest führten.
So scheidet dieser Gipfel die Geister an vielen Orten der Gesellschaft. Die Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter sagt über die G 8: "Seltsam, dass sie sich an einem Ort treffen, der das Wort heilig in seinem Namen hat." Dort wollen sie über Dinge verhandeln, die für die Menschen heilig seien, so das Leben ihrer Kinder. Das Einfache solle gesagt werden: dass die Welt keine Ware sei und eine endliche Welt kein unendliches Wachstum erlaube. Dass die Beruhigungsfloskeln der Mächtigen, sie würden alles in den Griff kriegen, krank machen. Und die Bischöfin zitiert den Propheten Jeremia: "... sie gehen mit Lügen um, indem sie sagen: Friede, Friede. Und es ist doch nicht Friede. Sie werden alle mit Schande dastehen."
Schon am Sonntag überschneiden sich viele Aktionen: eine Treckerrallye mit 2.000 Leuten fährt von der Rostocker Universität zum Agro-Biotechnikum in Groß-Lüsewitz, wo Gen-Versuche unternommen werden. In Rostock gestaltet zur gleichen Zeit Greenpeace in einer Massenperformance ein "human banner" gegen die Klimaerwärmung. In Bad Doberan führt der Galerist Alexander Ochs durch seine Ausstellung Balance, mit Bildern und Skulpturen bekannter Künstler aus aller Welt im Münster und rundum. Am Rostocker Stadthafen ist Heiligendamm aus Styropor nachgebaut, dort gibt es Filme, eine Ausstellung, Debatten mit Künstlern, veranstaltet von Adrienne Göhler. Am Abend ist in Bad Doberan ein Zelt der Linkspartei überfüllt, der Theologe Eugen Drewermann spricht gegen Kriegsmentalität, dass den Anwesenden der Atem stockt. Oskar Lafontaine reißt die Versammelten durch seinen Katalog der politischen Handlungsvorschläge mit. Vermutlich werden an diesem Abend einige Aufnahmescheine der neuen Partei unterschrieben, die sich in einer Woche gründet. Auf dem Kundgebungsplatz vom Vortag findet zum Sonnenuntergang ein hinreißendes Konzert statt.
Die Protestwoche ist wie eine große Sommeruniversität, in der Lernen mit Handeln verknüpft ist. Das Programm füllt ein Schulheft. Der Alternativ-Gipfel bietet Vorträge und Seminare mit Jean Ziegler, Annelie Buntenbach, Walden Bello, John Holloway und vielen anderen. Am Montag eine Überraschung: es versammeln sich bei der Demo für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten doppelt oder gar dreimal mehr Teilnehmer als erwartet und angemeldet. Also kein Rückzug ins Private, um die Wunden zu lecken. Die Polizei kontrolliert Stunden lang Taschen und Papiere, während wieder ein zermürbender Hubschrauber über den Leuten rotiert, und untersagt zuletzt den vereinbarten Weg, weil sie die große Menge nicht im Griff habe.
Rostocks Innenstadt ist nicht zertrümmert, wie Medien berichten, aber die Rostocker sind tief enttäuscht über den Imageschaden für ihre Stadt, nachdem doch Lichtenhagen allmählich in Vergessenheit geraten war. Die Polizei ist zum Kurs einschüchternder Total-Kontrollen zurückgekehrt, wie im Grunde schon vor der großen Demo. Jetzt aber mit offenen Aggressionen.
Gab es je wirklich eine Entscheidung für den so genannten Deeskalationskurs, dessen Scheitern schadenfroh proklamiert wird? Schwer zu glauben. Es scheint eher ein Wettkampf zwischen zwei Polizeitaktiken gewesen zu sein. Die "Durchgreifer" warteten stets im Hintergrund. Wenn der G 8-Gipfel, die hohle Veranstaltung, beginnt, wird sich der Kampf um die öffentliche Meinung noch einmal zuspitzen.
Marina Achenbach
80.000 IN ROSTOCK. Gab es je wirklich eine Entscheidung für den so genannten Deeskalationskurs, dessen Scheitern schadenfroh proklamiert wird?
Von irgendwoher Trommeln - kein Marsch, sondern vielfältige Rhythmen. Es mischt sich mit Polizeisirenen. Drehen wieder Kolonnen von Polizei-"Wannen" ihre Runden? Nie weiß man, woher, wohin, wozu. Genauso wenig wie bei den Trupps in Grün, Schwarz, Blau, mit Helmen, Visieren, Schutzwesten, Kameras, Pistolen, Schlagstöcken, schwarzen dicken Handschuhen. Und nun wieder ein Hubschrauber, der Terror seines Krachs. Pardon, ich will mich hier nicht mit der Polizei befassen, und nun fängt der Artikel doch mit ihr an. Ich will sie wieder hinter mir lassen, will mir die Demonstration vergegenwärtigen und die Spannung des Ausnahmezustands wegdrängen. In Rostock ist das nicht so leicht.
Am Morgen des Samstags, an dem sich 80.000 auf den Weg machen, sind die seit Tagen allgegenwärtigen Polizeitrupps aus dem Blickfeld verschwunden. Ein Hubschrauber hoch im grauen Himmel. Auf dem zentralen Neuen Markt sammelt sich eine Gruppe mit großen roten Ballons, Aktion für die Entschuldung Afrikas. Zwei Männer tragen auf ihren Schultern eine Stange mit den lebensgroßen Acht, die wie Hampelmänner hin und her schlenkern. Zum Bahnhof ziehen immer dichter Grüppchen und Einzelne zu einem der beiden Ausgangspunkte der Demonstration. In der Bahnhofsunterführung wird es eng, die Masse kommt nur millimeterweise voran, einige aus der Clownsarmy machen ihre überdrehten Scherze, für die sie ein verlegenes Lächeln ernten. Später werden sie die Polizisten zum Kochen bringen und weiter hüpfen.
Beim Auftauchen aus dem Tunnel ein toller Anblick: der weite, kahle Platz hinterm Bahnhof voller Menschen mit Fahnen, Transparenten, Tafeln. "G 8 gebt 8" ist zu lesen, eine Schülergruppe umsteht ihr Schild "Der Reichtum der Erde ist für alle da, nicht nur für G 8". Punks sitzen um ein Tuch herum, das sie mit Bierflaschen beschwert haben, darauf steht "Ham die da oben Stroh oder Scheiße im Kopf?" Puppen, die zwei Meter groß sind, lehnen an einem Geländer, Drachen und meterlange nimmersatte Raupen werden bewegt, Regenbogenfahnen liegen über Schultern. Alles flattert im Ostseewind.
An einer Jacke klein das Pappschild "G 8 ist Gewalt/Ich bin bereit" - der Träger mit dichtem grauem Schopf grinst zufrieden über meine Aufmerksamkeit. Kinder sind da, die Generationen sind gemischt, das fällt auf wie bei der Demonstration gegen den drohenden Irak-Krieg am 15. Februar 2003 in Berlin. Es sind Jugendliche, Schülergruppen, Punks, bürgerliche Paare, grauhaarige Routiniers, deren Anoraks, Rucksäcke und Turnschuhe sich schon in etlichen Demo-Kilometern bei Hitze oder Regen bewährt haben. Manche beobachten zaghaft und introvertiert, andere fühlen sich hier unter Gleichgesinnten gut. Alle nehmen die Atmosphäre auf, sie ist an diesem Ort und an diesem Beginn voll Enthusiasmus, ganz einfach über diese Menge an Menschen. Sie waren erwartet, aber niemand hätte sie voraussagen können.
Musik kommt aus der Konserve, nur getrommelt wird kunstvoll. Das Selbst-Singen scheint abgeschafft. Doch Freude gibt es, in der Stimme von Tobias Pflüger tönt sie ungebremst: "Wir sind viele, sehr viele! Ich beglückwünsche euch", ruft der Europaabgeordnete. "Wir sind international. Das Gegenteil von den Nazis, die von Schwerin herkommen wollen. Gerade war ich bei der Gerichtsverhandlung über den Flughafen Laage, noch ist nichts entschieden, doch wir werden ihn in jedem Fall blockieren, wir werden ihnen wirkliche Probleme schaffen, werden ein Zeichen geben, aber ihnen nicht die Bilder von Gewalt liefern, die Schäuble und die anderen wollen. Die Gewalttäter sitzen in Heiligendamm, sie sind es, auf die 90 Prozent der Rüstungsausgaben der Welt fallen."
Mit erhobenen Händen der Polizei entgegen
Es braucht Zeit, bis diese große Menge zu einem Zug wird, der sich in die Stadt bewegt. Von der anderen Seite werden später Demonstranten hinzu stoßen, die mit Bussen angereist sind. Hunderte Busse, ein Stück Autobahn ist ihr Parkplatz. Heute wird nur noch in Hunderten und Tausenden gezählt. Drei Freunde aus Köln erzählen, dass sie am Vorabend gefeiert und um Mitternacht beschlossen haben, doch noch zur Demo zu fahren. Mit einem Nachtzug über Hamburg erreichen sie das Ziel.
An den dicken Mauern von St. Marien steht Pfarrer Jens Langer, der bis vor einigen Jahren die Gemeinde dieser großen, zentralen Kirche betreute. Hier gab es zum Auftakt des Protestes einen Mittags-Gottesdienst mit 2.000 Besuchern. Jetzt betrachtet Jens Langer den Zug. "Ich sehe sehr viel Intelligenz, Phantasie, Kompetenz, Politikfähigkeit - und das alles hat dieser Staat abgeschrieben", sagt er. "Welche Vergeudung an Möglichkeiten für die Gesellschaft!"
Zweimal kommt die Demo an kaputt geschlagenen Scheiben vorbei - das gibt es also auch, eine dumme Lust, die jemand im Windschatten des riesigen Zuges auslebt. So scheint es. Da offenbar keine Polizei eingegriffen hat, bleibt es eine Randerscheinung ohne Tumult.
Endlich strömen die Demonstranten ins Gelände des Stadthafens, eine staubige, steinige Fläche mit Bühne, Zirkuszelt und Ständen, durch hohe Gitter vom Wasser getrennt. Am Kai liegt das zum Treffpunkt umfunktionierte Schiff der DDR-Fischfangflotte, die legendäre Stubnitz, daneben die prächtigen Segelschiffe von Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen und zwei Schiffe aus Dänemark. Die ersten Reden sind ganz von der Idee einer anderen Welt bestimmt. Doch eine eigenartige Mattigkeit scheint über die Tausenden gekommen zu sein, eine Art Ernst, die Haltung des Abwartens. Und das bevor die Steine fliegen und die Polizisten-Schwärme eindringen, bevor der erste Wasserwerfer mit hohem Tempo und zwei ungeheuren Strahlen in die Menge fährt, die Leute diagonal über den Platz rennen, während andere mit erhobenen Händen der Polizei entgegen gehen oder die Steinewerfer zu stoppen versuchen. Lange bevor die schwarze Rauchsäule von dem brennenden Auto aufsteigt und die Feuerwehr stecken bleibt, ist die Stimmung verändert. Die Beobachtung machen auch andere, eine Erklärung fehlt. Die Freude scheint verflogen. Vielleicht zerrt der Hubschrauber an den Nerven, der ständig dicht über der Menge kreist und gegen den die Lautsprecher kaum ankommen.
Als die Konflikte beginnen, nimmt Christoph Kleine, einer der Organisatoren, das Mikro und beschwört die riesige Menschenmasse, vernünftig zu reagieren: "Es läuft nicht so wie gedacht, aber lassen wir uns jetzt nicht trennen. Lassen wir uns nicht provozieren - unser Bündnis muss jetzt halten - rückt zusammen. Lasst die Feuerwehr ihre Arbeit machen! Die Vielfalt und der Zusammenhalt der Bewegung sind unser Erfolg - an die Polizei: Ziehen Sie den Wasserwerfer zurück - verlassen Sie das Gelände - ich fordere die Polizei flehend (so habe ich dieses Wort gehört, vielleicht täusche ich mich) auf, mit der Provokation Schluss zu machen - bleibt zusammen - keine Panik - hört an den Rändern mit den Scharmützeln auf. Bildet Ketten. Seid solidarisch ..."
Von nun an erleben alle, die dabei sind, die Dinge unterschiedlich, je nach Position auf dem großen Platz und je nach Augenblick. In der Nacht, die folgt, tauschen sie in den Camps, den Bussen und Zügen, an den Bildschirmen ihre Beobachtungen aus und rekonstruieren die Ereignisse. Die meisten machen es sich nicht leicht, sie belasten nicht allein die Polizei. Auch Tim Laumeyer, ein Sprecher der autonomen Gruppen, die unter dem Slogan Make Capitalism History dabei waren, bedauert gegenüber der Presse die Eskalation und die Verletzung von Menschen. Alle fragen danach, ob im so genannten schwarzen Block die Konfrontation geplant wurde, ob es ein Störmanöver sein sollte gegen das große Bündnis, wie es vorher nie zustande gekommen war. Oder ob unpolitische Hooligans die Szene bestimmten.
Am Ende dieses Tages fällt Monty Schädel, der Rostocker Demo-Organisator, hinter der Bühne erschöpft auf einen Stuhl und sagt, die Augen verschwollen von Tränengas: "Und das war erst der erste Tag."
Die Bischöfin zitiert den Propheten Jeremia
Sonntag früh flackern im schönen Münster von Bad Doberan Tausende Kerzen. Zur Mahnung an die 30.000 Kinder, die jeden Tag aus Armut sterben, werden von hier aus ebenso viele Kerzen an hundert Kirchengemeinden an der Nord- und Ostseeküste verteilt, um sie am Dienstag, wenn die G 8 eintreffen, anzuzünden. Sie sollen brennen zum "Heiligen Damm des Gebets", das den Gipfel Tag und Nacht begleiten wird. Die Christen können sich auf die menschliche Verantwortung für die universale Welt berufen, wenn sie gegen die Macht der acht reichsten Staaten anreden. Wobei sie heftige interne Auseinandersetzungen über den Protest führten.
So scheidet dieser Gipfel die Geister an vielen Orten der Gesellschaft. Die Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter sagt über die G 8: "Seltsam, dass sie sich an einem Ort treffen, der das Wort heilig in seinem Namen hat." Dort wollen sie über Dinge verhandeln, die für die Menschen heilig seien, so das Leben ihrer Kinder. Das Einfache solle gesagt werden: dass die Welt keine Ware sei und eine endliche Welt kein unendliches Wachstum erlaube. Dass die Beruhigungsfloskeln der Mächtigen, sie würden alles in den Griff kriegen, krank machen. Und die Bischöfin zitiert den Propheten Jeremia: "... sie gehen mit Lügen um, indem sie sagen: Friede, Friede. Und es ist doch nicht Friede. Sie werden alle mit Schande dastehen."
Schon am Sonntag überschneiden sich viele Aktionen: eine Treckerrallye mit 2.000 Leuten fährt von der Rostocker Universität zum Agro-Biotechnikum in Groß-Lüsewitz, wo Gen-Versuche unternommen werden. In Rostock gestaltet zur gleichen Zeit Greenpeace in einer Massenperformance ein "human banner" gegen die Klimaerwärmung. In Bad Doberan führt der Galerist Alexander Ochs durch seine Ausstellung Balance, mit Bildern und Skulpturen bekannter Künstler aus aller Welt im Münster und rundum. Am Rostocker Stadthafen ist Heiligendamm aus Styropor nachgebaut, dort gibt es Filme, eine Ausstellung, Debatten mit Künstlern, veranstaltet von Adrienne Göhler. Am Abend ist in Bad Doberan ein Zelt der Linkspartei überfüllt, der Theologe Eugen Drewermann spricht gegen Kriegsmentalität, dass den Anwesenden der Atem stockt. Oskar Lafontaine reißt die Versammelten durch seinen Katalog der politischen Handlungsvorschläge mit. Vermutlich werden an diesem Abend einige Aufnahmescheine der neuen Partei unterschrieben, die sich in einer Woche gründet. Auf dem Kundgebungsplatz vom Vortag findet zum Sonnenuntergang ein hinreißendes Konzert statt.
Die Protestwoche ist wie eine große Sommeruniversität, in der Lernen mit Handeln verknüpft ist. Das Programm füllt ein Schulheft. Der Alternativ-Gipfel bietet Vorträge und Seminare mit Jean Ziegler, Annelie Buntenbach, Walden Bello, John Holloway und vielen anderen. Am Montag eine Überraschung: es versammeln sich bei der Demo für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten doppelt oder gar dreimal mehr Teilnehmer als erwartet und angemeldet. Also kein Rückzug ins Private, um die Wunden zu lecken. Die Polizei kontrolliert Stunden lang Taschen und Papiere, während wieder ein zermürbender Hubschrauber über den Leuten rotiert, und untersagt zuletzt den vereinbarten Weg, weil sie die große Menge nicht im Griff habe.
Rostocks Innenstadt ist nicht zertrümmert, wie Medien berichten, aber die Rostocker sind tief enttäuscht über den Imageschaden für ihre Stadt, nachdem doch Lichtenhagen allmählich in Vergessenheit geraten war. Die Polizei ist zum Kurs einschüchternder Total-Kontrollen zurückgekehrt, wie im Grunde schon vor der großen Demo. Jetzt aber mit offenen Aggressionen.
Gab es je wirklich eine Entscheidung für den so genannten Deeskalationskurs, dessen Scheitern schadenfroh proklamiert wird? Schwer zu glauben. Es scheint eher ein Wettkampf zwischen zwei Polizeitaktiken gewesen zu sein. Die "Durchgreifer" warteten stets im Hintergrund. Wenn der G 8-Gipfel, die hohle Veranstaltung, beginnt, wird sich der Kampf um die öffentliche Meinung noch einmal zuspitzen.
Tobias Pflüger - 2007/06/13 15:15
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