Zu Besuch beim Tübinger EU-Abgeordneten Tobias Pflüger im Brüsseler Parlament
Presse-Bericht in: Schwäbisches Tagblatt, Freitag 10.12.04
TÜBINGEN/BRÜSSEL (ede). Der Tübinger EU-Abgeordnete Tobias Pflüger lud ein – und 38 Besucher (fast ausschließlich aus dem Kreis Tübingen) kamen. Sie machten sich am Donnerstag vergangene Woche auf eine 600 Kilometer lange politische Bildungsreise nach Brüssel, um sich das europäische Machtzentrum näher anzuschauen. Zwei Stunden lang saßen sie mit ihrem Parlamentarier zusammen. Unter ihnen Alte und Junge, Linke und Liberale. Auch das TAGBLATT war dabei.
„Sie kommen gerade richtig“, begrüßt der Abgeordnete die Tübinger, „heute spinnt das ganze Parlament.“ Am Vorabend hatte die ukrainische Opposition den Rücktritt der Regierung unter Ministerpräsident Viktor Janukowitsch erreicht. Im EU-Parlament jagt daher eine Sondersitzung die andere. Anstelle der Russland-Debatte gibt’s eine Debatte über die Ukraine. Pflüger: „Das geht bestimmt noch bis Mitternacht.“
Für Pflüger sind das keine ungewöhnlich langen Arbeitszeiten. Er ist Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung sowie im Ausschuss für Wirtschaft und Währung, zählt er auf. Hinzu kommen noch sein Job als Erster Vizepräsident in der EU-Delegation für die Beziehungen zu den Golfstaaten und dem Jemen, außerdem seine Aktivitäten in der internationalen Friedensbewegung. Auf gut 85 Stunden veranschlagt der Parlamentarier seine wöchentliche Arbeitszeit.
Von Angelika Beer beschimpft
Den wohl nachhaltigsten Eindruck macht auf den 39-Jährigen der Auswärtige Ausschuss: „Das ist eine ganz andere Welt.“ Denn im Gegensatz zur (öffentlichen) Ansprache im Parlament werde hier in den nicht-öffentlichen Sitzungen „Klartext geredet“. So hätten im Ausschuss die deutschen Rot-Grünen bei der Diskussion um den Türkei-Beitritt zur EU die Menschenrechtsfrage heruntergespielt und die geostrategische Bedeutung der Türkei hervorgehoben. Am Ende der langen Diskussion wurde der Türkei-Bericht mit insgesamt 463 Änderungen beschlossen – alle einzeln abgearbeitet. Zwar „ist die Menschenrechtssituation in der Türkei problematisch und entspricht überhaupt nicht den Kopenhagener Kriterien“, gibt Pflüger zu bedenken. Dennoch werde am 17. Dezember der EU-Rat beschließen, dass Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden. Da ist er sich sicher.
Ganz offen werde im Auswärtigen Ausschuss auch die künftige Rolle der EU ausgesprochen: Sie soll neben den USA zur Weltmacht werden. Im Schatten der USA treibe sie laut Pflüger die Militarisierung voran: Aufbau der Kampftruppen, Computerisierung der Kriegsführung. Da gebe es eine „ganze Latte von Projekten“. Denn in ein paar Jahren wolle man soweit sein, dass die EU etwa einen Krieg wie im einstigen Jugoslawien allein führen kann – ohne die USA.
Solch unverhohlen ausgesprochene Weltmachtansprüche erlebt der Tübinger Friedensaktivist in Brüssel hautnah. Das mache ihm zu schaffen. „Je länger ich im Parlament sitze“, sagt er, „desto mehr neige ich zu Protest und Widerstand.“ Er überlegt bereits, Formen des zivilen Ungehorsams zu prüfen.
Eine Kampagne gegen die EU-Verfassung will Pflüger Anfang des kommenden Jahres beginnen und zum außerparlamentarischen Engagement aufrufen. „Dazu brauche ich euch“, versucht er seine Gäste aus Tübingen zu motivieren. Denn ihm zufolge ist die Verfassung auf Militarisierung ausgerichtet, verfolgt eine neoliberale Wirtschaftsordnung und schreibt den Abbau demokratischer Grundrechte fest. Sie sei antisozial und friedensgefährdend. Als er seine Ablehnung im Auswärtigen Ausschuss begründete, sei er von der Grünen Angelika Beer „übelst beschimpft“ worden.
Kein Fraktionszwang
„Sehr wohl“ fühlt sich Pflüger in der eigenen Fraktion, lässt er seine Gäste wissen. Sie stellt von den insgesamt 732 Abgeordneten 41 Parlamentarier und hat den etwas umständlichen Namen „Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke“ (GUE/NGL). Dazu gehört die PDS mit ihren sieben Mitgliedern, darunter dem Unabhängigen Pflüger. Mit einer ganzen Reihe von Kollegen kommt er „sehr gut aus“, innerhalb seiner PDS-Delegation aber wünscht er sich mehr politische Debatten. Ironie am Rande: In seiner Delegation vertrete er, der Parteilose, „am entschiedensten“ die PDS-Parteitagsbeschlüsse.
Einen Fraktions- oder Delegationszwang gebe es nicht. Pflüger: „Sie lassen mich machen, und das ist gut so.“ Wie lange, bleibt abzuwarten, und wie flexibel er dann sein wird, auch. Doch zwei Punkte sind für Pflüger „essentiell“: Die Ablehnung der EU-Verfassung sowie der politische Kampf gegen die EU-Militarisierung. Sollte die PDS hier ihre Position ändern, dann „kriegt sie mit mir ein Problem.“
Zwei Stunden sind eine kurze Zeit für 38 Neugierige aus Tübingen. Um 19 Uhr ist Schluss. Der Abgeordnete muss in den Plenarsaal, und für die Gäste steht noch eine Stunde Live-Debatte über die Ukraine auf dem Programm.
Weitere Infos und Bilder vom Parlamentsbesuch in Brüssel:
http://www.tagblatt.de/index.php?artikel_id=527547
TÜBINGEN/BRÜSSEL (ede). Der Tübinger EU-Abgeordnete Tobias Pflüger lud ein – und 38 Besucher (fast ausschließlich aus dem Kreis Tübingen) kamen. Sie machten sich am Donnerstag vergangene Woche auf eine 600 Kilometer lange politische Bildungsreise nach Brüssel, um sich das europäische Machtzentrum näher anzuschauen. Zwei Stunden lang saßen sie mit ihrem Parlamentarier zusammen. Unter ihnen Alte und Junge, Linke und Liberale. Auch das TAGBLATT war dabei.
„Sie kommen gerade richtig“, begrüßt der Abgeordnete die Tübinger, „heute spinnt das ganze Parlament.“ Am Vorabend hatte die ukrainische Opposition den Rücktritt der Regierung unter Ministerpräsident Viktor Janukowitsch erreicht. Im EU-Parlament jagt daher eine Sondersitzung die andere. Anstelle der Russland-Debatte gibt’s eine Debatte über die Ukraine. Pflüger: „Das geht bestimmt noch bis Mitternacht.“
Für Pflüger sind das keine ungewöhnlich langen Arbeitszeiten. Er ist Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung sowie im Ausschuss für Wirtschaft und Währung, zählt er auf. Hinzu kommen noch sein Job als Erster Vizepräsident in der EU-Delegation für die Beziehungen zu den Golfstaaten und dem Jemen, außerdem seine Aktivitäten in der internationalen Friedensbewegung. Auf gut 85 Stunden veranschlagt der Parlamentarier seine wöchentliche Arbeitszeit.
Von Angelika Beer beschimpft
Den wohl nachhaltigsten Eindruck macht auf den 39-Jährigen der Auswärtige Ausschuss: „Das ist eine ganz andere Welt.“ Denn im Gegensatz zur (öffentlichen) Ansprache im Parlament werde hier in den nicht-öffentlichen Sitzungen „Klartext geredet“. So hätten im Ausschuss die deutschen Rot-Grünen bei der Diskussion um den Türkei-Beitritt zur EU die Menschenrechtsfrage heruntergespielt und die geostrategische Bedeutung der Türkei hervorgehoben. Am Ende der langen Diskussion wurde der Türkei-Bericht mit insgesamt 463 Änderungen beschlossen – alle einzeln abgearbeitet. Zwar „ist die Menschenrechtssituation in der Türkei problematisch und entspricht überhaupt nicht den Kopenhagener Kriterien“, gibt Pflüger zu bedenken. Dennoch werde am 17. Dezember der EU-Rat beschließen, dass Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden. Da ist er sich sicher.
Ganz offen werde im Auswärtigen Ausschuss auch die künftige Rolle der EU ausgesprochen: Sie soll neben den USA zur Weltmacht werden. Im Schatten der USA treibe sie laut Pflüger die Militarisierung voran: Aufbau der Kampftruppen, Computerisierung der Kriegsführung. Da gebe es eine „ganze Latte von Projekten“. Denn in ein paar Jahren wolle man soweit sein, dass die EU etwa einen Krieg wie im einstigen Jugoslawien allein führen kann – ohne die USA.
Solch unverhohlen ausgesprochene Weltmachtansprüche erlebt der Tübinger Friedensaktivist in Brüssel hautnah. Das mache ihm zu schaffen. „Je länger ich im Parlament sitze“, sagt er, „desto mehr neige ich zu Protest und Widerstand.“ Er überlegt bereits, Formen des zivilen Ungehorsams zu prüfen.
Eine Kampagne gegen die EU-Verfassung will Pflüger Anfang des kommenden Jahres beginnen und zum außerparlamentarischen Engagement aufrufen. „Dazu brauche ich euch“, versucht er seine Gäste aus Tübingen zu motivieren. Denn ihm zufolge ist die Verfassung auf Militarisierung ausgerichtet, verfolgt eine neoliberale Wirtschaftsordnung und schreibt den Abbau demokratischer Grundrechte fest. Sie sei antisozial und friedensgefährdend. Als er seine Ablehnung im Auswärtigen Ausschuss begründete, sei er von der Grünen Angelika Beer „übelst beschimpft“ worden.
Kein Fraktionszwang
„Sehr wohl“ fühlt sich Pflüger in der eigenen Fraktion, lässt er seine Gäste wissen. Sie stellt von den insgesamt 732 Abgeordneten 41 Parlamentarier und hat den etwas umständlichen Namen „Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke“ (GUE/NGL). Dazu gehört die PDS mit ihren sieben Mitgliedern, darunter dem Unabhängigen Pflüger. Mit einer ganzen Reihe von Kollegen kommt er „sehr gut aus“, innerhalb seiner PDS-Delegation aber wünscht er sich mehr politische Debatten. Ironie am Rande: In seiner Delegation vertrete er, der Parteilose, „am entschiedensten“ die PDS-Parteitagsbeschlüsse.
Einen Fraktions- oder Delegationszwang gebe es nicht. Pflüger: „Sie lassen mich machen, und das ist gut so.“ Wie lange, bleibt abzuwarten, und wie flexibel er dann sein wird, auch. Doch zwei Punkte sind für Pflüger „essentiell“: Die Ablehnung der EU-Verfassung sowie der politische Kampf gegen die EU-Militarisierung. Sollte die PDS hier ihre Position ändern, dann „kriegt sie mit mir ein Problem.“
Zwei Stunden sind eine kurze Zeit für 38 Neugierige aus Tübingen. Um 19 Uhr ist Schluss. Der Abgeordnete muss in den Plenarsaal, und für die Gäste steht noch eine Stunde Live-Debatte über die Ukraine auf dem Programm.
Weitere Infos und Bilder vom Parlamentsbesuch in Brüssel:
http://www.tagblatt.de/index.php?artikel_id=527547
Tobias Pflüger - 2004/12/11 18:27
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