Einfluss des EU-Vertrags auf Verteidigungspolitik weiter unklar [DE]

Pressebericht in: EurActiv.com. - Mittwoch 13. Februar 2008

Der Vertrag von Lissabon werde die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) stärken. Die Reichweite der Änderungen werde jedoch stark von der Zusammensetzung der neuen Troika abhängen, die 2009 ernannt werden wird. Dies stellten die Europaabgeordneten und Experten fest, die an einem Workshop des Europäischen Parlaments teilgenommen haben.

Der Vertrag berge zahlreiche Möglichkeiten zur Verbesserung, aber auch viel Ungewisses, stellte Antonio Missiroli vom European Policy Centre fest. Dabei bezog er sich insbesondere auf die Position des Hohen Repräsentanten. Dessen Rolle beim weiteren Ausbau der ESVP werde ‚zentral’ sein, so Missiroli und die Abgeordneten des Europaparlaments. Sie wiesen darauf hin, dass die Reichweite seiner Aufgaben stark von der Persönlichkeit des Amtsinhabers abhängen werde.

Der Hohe Repräsentant und der auswärtige Dienst würden als Verbindung zwischen dem Rat und der Kommission dienen müssen, sagte Jo Leinen, deutscher sozialdemokratischer Europaabgeordneter und Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Konstitutionelle Fragen.
Daher werde die EU in einerseits eine Kommission, die sich allein mit Innenpolitik beschäftige, und andererseits einen Rat, der mit externer Repräsentation betraut sei, gespalten sein, erklärte Leinen.

Die Europaabgeordneten stimmten zu, dass das Parlament ein großes Mitspracherecht bei der Bestimmungen der neuen Troikamitglieder haben müsse, da die Mitglieder die Kompetenzen der Troika, besonders in Hinblick auf den neuen Präsidenten der Union, festlegen würden.
Man müsse sicherstellen, dass der neue Präsident die Exekutivorgane nicht beeinträchtige. Seine einzige Funktion sei die Repräsentation, sagte Leinen.

Außerdem müsse das Parlament sein Kontrollrecht wahrnehmen und die Außen- und Sicherheitspolitik genau überprüfen, besonders im Hinblick auf EU-Missionen, forderte Leinen. Wenn die Europaabgeordneten hierbei scheiterten werde am Ende ein Vakuum demokratischer Kontrolle entstehen.

Die meisten Europaabgeordneten teilten die Ansicht, dass zusätzlich eine stärke öffentliche Debatte über EU-Missionen notwendig sei.

Ein umstrittenes Thema war die neu geschaffene Möglichkeit für ‚Ständige strukturierte Zusammenarbeit’, die es den größten Mitgliedstaaten (bezüglich der militärischen Kapazitäten und Verpflichtungen) ermöglicht, in Sicherheits- und Verteidigungsfragen voranzuschreiten.

Unter anderem kritisierte der deutsche Europaabgeordnete Tobias Pflüger von der Fraktion KVEL/NGL dieses Konzept deutlich. Er wies darauf hin, dass es zur Schaffung eines „Kerneuropas“ der ‚vier Großen’ – Deutschland, Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich – führen könne.

Weitere problematische Bereiche sind der erstmalige Bezug eines EU-Vertrags auf die Nato als auch die Klauseln zu Solidarität und gegenseitiger Verteidigung, welche die Mitgliedstaaten verpflichten, sich im Fall einer bewaffneten Aggression oder eines Terrorangriffs gegenseitig zu unterstützen.
Vertreter der Linken betrachteten diese Artikel als Schritte hin zu einer ‚stärkeren Militarisierung’ der Union, unterstrich Pflüger.

Hintergrund:
Der Vertrag von Lissabon, der von den europäischen Staats- und Regierungschefs im Dezember 2007 unterzeichnet worden war und der vermutlich 2009 in Kraft treten wird, bringt zahlreiche Änderungen für die ESVP mit sich.

Die bedeutendste Änderung betrifft die Stärkung des Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik, die Position, die momentan Javier Solana innehat. Der Hohe Repräsentant, der von einem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) unterstützt werden wird, wird auch als Vizepräsident der Kommission fungieren und im Grunde der Außenminister der Union sein.

Die neue Vertrag sieht außerdem eine Ausweitung der Petersberger Aufgaben zur Friedenssicherung, Abrüstung, Konfliktprävention und -lösung vor, sowie eine ‚Ständige strukturierte Zusammenarbeit’ derjenigen Mitgliedstaaten, „die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind“.
Der Text schließt erstmals auch die gegenseitige Verteidigung und eine Solidaritätsklausel in einen EU-Vertrag mit ein.

Positionen:
Der deutsche sozialdemokratische Europaabgeordnete und Vorsitzende des Parlamentsausschusses für konstitutionelle Fragen, Jo Leinen, ist der Meinung, dass die ESVP deutlich durch den neuen Vertrag gestärkt werde. Er stellte aber fest, dass sie nichtsdestotrotz weiterhin ein ungeklärtes Terrain bleibe.

Geoffrey van Orden, verteidigungspolitischer Sprecher der Konservativen im Europäischen Parlament, sagte, dass der neue Vertrag die Verteidigungsziele der EU enorm voranbringen werde.

Er zeigte sich besorgt, dass der neue Vertrag eine Kerngruppe von Ländern befähigen könne, eine EU-Armee unter der Leitung des neuen EU-Präsidenten und ‚Außenministers’ aufzubauen, ohne jegliche Begrenzung der Tragweite der militärischen Missionen, welche die Union unternehmen könnte.

Andrew Duff, der Vorsitzende der britischen Liberaldemokraten im Europaparlament und ehemalige Ko-Berichterstatter zur „Reflexionsperiode“, die nach den französischen und niederländischen Referenden zu europäischen Verfassung gefolgt war, sagte, dass der Vertrag ein großes Potential berge. Sein Einfluss auf den Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sei umfangreich.

Der deutsche Abgeordnete Tobias Pflüger (KVEL/NGL) kritisierte mit Nachdruck die ‚grundlegenden Änderungen’ im Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Er wies darauf hin, dass die Artikel zu Verteidigung und Sicherheit zum ‚Rückgrat’ des Vertrags geworden seien.

Er brachte auch seine Kritik zum Vierten Protokoll des Vertrags zum Ausdruck. Darin ist die Entsendung von EU-Kampftruppen für EU-Missionen innerhalb von fünf bis 30 Tagen vorgesehen.

Diese Bestimmung schwächt das Recht des Parlaments deutlich, militärische Missionen zu überprüfen, sagte Pflüger. Er wies darauf hin, dass es, zumindest für das deutsche Parlament, unmöglich sei, einer Mission zuzustimmen.

Die portugiesische Sozialdemokratin und Vize-Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Sicherheit und Verteidigung, Ana Gomes, sagte, dass der Vertrag in Hinsicht auf die Bewältigung des Demokratiedefizits Fortschritte aufweise. Sie gestand jedoch ein, dass die Mehrheit der nationalen Parlamentarier noch immer nicht wüsste, was auf EU-Ebene geschehe.

Sie sei sich der Sorgen über die Ausweitung der Petersberger Aufgaben bewusst, aber wies darauf hin, dass man hin und wieder auf das Militär einfach angewiesen sei, besonders, wenn es um humanitäre Katastrophen wie im Tschad ginge.

Karl von Wogau, der Vorsitzende des Unterausschusses zu Sicherheit und Verteidigung im Europaparlament, zog den Schluss, dass die EU trotz der Verbesserungen in diesem Bereich noch weit von einer gemeinsamen europäischen Armee entfernt sei. Verteidigung bleibe ein vornehmlich nationaler Bereich, sagte er.

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