Anfang einer Welle

Artikel in "Der Spiegel", 10. November 2008

Die Grünen und die Linkspartei buhlen um die Gunst neuer sozialer Bewegungen wie Attac - sie wollen
sich gegenseitig Unterstützer abjagen.


Es ist noch gar nicht so lange her, da hat Sven Giegold noch böse über die Grünen geschimpft. Es sei "kein zentrales Ziel der Grünen mehr, Ungleichheit zu bekämpfen", klagte der damalige Sprecher von Attac. Giegold war einer der größten Globalisierungskritiker des Landes, und die Grünen, Miterfinder von Hartz IV und Agenda 2010, zählten zu den natürlichen Feinden.

Anfang Oktober saß Sven Giegold in Deutschlands bekanntester Polit-Talkshow und wurde von Moderatorin Anne
Will als "Neumitglied der Grünen" angekündigt. "Wenn man für soziale Gerechtigkeit und Ökologie steht, dann
muss man grün werden", sagt Giegold heute. Er will für die Ökopartei ins Europaparlament einziehen. Der Landesparteirat Nordrhein-Westfalen hat ihm unlängst seine Unterstützung zugesichert.

Das Votum für Giegold ist der bisherige Höhepunkt einer Kampagne, mit der die Grünen soziale Bewegungen wie Attac wieder an sich binden wollen. Im harten Kampf um das linke Spektrum im Land wollen sie so vor allem der Partei Die Linke Unterstützer abjagen. "Ich finde es großartig, dass unsere Partei so attraktiv ist für unabhängige Köpfe", machte Parteichefin Claudia Roth sich nach Giegolds Einstieg selbst Mut.

"Die Kandidatur soll ein politisches Signal sein", so erklärt Malte Spitz, 24, jüngstes Mitglied im Bundesvorstand,
die neue Strategie. "Es zeigt, wie offen die Grünen sind." Es war Spitz' Idee, den prominenten Globalisierungskritiker zu werben. Er will, dass seine Partei, die einst selbst Bewegung war, den Kontakt zu den sozialen Bewegungen verstärkt. Giegold soll erst den Anfang einer neuen Welle bilden.

Mit Barbara Lochbihler, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, tritt eine zweite wichtige Figur aus dem Sektor der Nichtregierungsorganisationen bei der Europawahl für die Grünen an. Weitere sollen folgen. In Frankreich hat die Schwesterpartei ihre Europa-Listen gerade für prominente Aktivisten geöffnet. Daniel Cohn-Bendit will das Modell auch bei den deutschen Grünen populär machen.

"Neue soziale Bewegungen" heißen im Soziologenjargon jene Protestgruppen, die in der Folge von Apo und Studentenbewegung entstanden sind. Sie kämpfen für die Umwelt, gegen Rassismus, für den Frieden, gegen Hunger, gegen Sozialabbau, für Bürger- und Menschenrechte und alles, was sonst noch gut ist.

Viele der Aktivisten sind jung, überdurchschnittlich gebildet und linksalternativ, ein perfektes Wählerpotential also
für die Grünen und die Linkspartei. Das macht sie gerade vor Superwahljahren so attraktiv. Den Kampf machen Grüne und Linke fast unter sich aus. So finden sich auf allen Ebenen der Politik Attac-Mitglieder, die für die Linkspartei antreten. In Hessen Janine Wissler, in Bremen Peter Erlanson, im Bundestag Norman Paech. Aber auch die Grünen sind personell vernetzt: In den Koordinierungskreis von Attac zogen im vergangenen November
drei Grüne ein. Die alte SPD hat bei den neuen Bewegungen kaum noch Chancen.

Die Linke hat sich vor allem bei den G-8-Protesten in Heiligendamm in der Szene beliebt gemacht. Oskar Lafontaine und Gregor Gysi unterschrieben den gemeinsamen Demonstrationsaufruf von Attac und anderen Organisationen - die Grünen nicht.

Tobias Pflüger, Friedensaktivist, Attac- Mitglied und seit 2004 für die Linke im EU-Parlament, glaubt, dass die meisten deutschen Attac-Mitglieder ohnehin der Linken näherstehen. "Der Bruch zwischen den Grünen und der Bewegung ist spätestens 1999 passiert", sagt Pflüger. Damals schickte Rot-Grün deutsche Truppen in den Kosovo-Krieg. "Jetzt laufen sie der kritischen Klientel krampfhaft hinterher."

"Wenn die Grünen mehr wollen als Symbolik", sagt Katja Kipping, 30, Vizechefin der Linken, "müssen sie sich der alltäglichen Zusammenarbeit mit den Bewegungen stellen." Kipping hat sich daher für die Einrichtung einer "Kontaktstelle Soziale Bewegungen" bei der Bundestagsfraktion ihrer Partei eingesetzt - zwei Vollzeitstellen lässt sich die Linke die Pflege der alten Freundschaften kosten.

Die Mitarbeiterinnen gehen zu Veranstaltungen der Bewegungen, schreiben Berichte für die Abgeordneten und
sind Kummerkastentanten der Aktivisten. Für Dieter Rucht, Experte für soziale Bewegungen, ist das Buhlen der Parteien allerdings vergebliche Liebesmüh. "Parteien funktionieren nach einer ganz anderen Logik als Bewegungen", sagt der Professor vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung. Allein deshalb könnten sie nicht dauerhaft zusammenarbeiten. "Wenn sich Parteien und Bewegungen aufeinander zubewegen, dann geschieht das aus einer Situation der Schwäche heraus, weil die Parteien ihre Basis verlieren zum Beispiel."

Dass sich die Grünen mit ihrem Kandidaten Giegold bei den Globalisierungskritikern viele Freunde machen, darf tatsächlich bezweifelt werden. "Ich sehe bei Dir die große Gefahr, dass Du Deine alten Attacpositionen auf ihre Grünenverträglichkeit einschrumpfst", schrieb Attac-Mitglied Heinrich Fecher dem Kandidaten in einem offenen Brief.
ANN-DORIT BOY

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