Brandsätze sind gelegt

Pressebericht in junge Welt vom 4. März 2009

Nach Europaparteitag in Essen: In Medien wie bei Teilen der Linkspartei werden die Kandidaten für die EU-Wahlen als inkompetent und zu wenig europafreundlich diffamiert

Seit der Hessenwahl ist es offensichtlich: Konkurrierende Parteien und Medien bekämpfen Die Linke erbittert. Nur damit glauben sie die Etablierung eines Fünfparteiensystems noch verhindern zu können. Doch selbst für skrupellose politische Gegner oder Journalisten ist es schwer, ein Feuer dort zu entfachen, wo nicht bereits ein in der Partei selbst erzeugter Funke glimmt. Für solche Brandsätze sorgten in Hessen Mitglieder, die längst entschlossen waren, der Linken den Rücken zu kehren. Auch bei der jetzigen Medienkampagne gegen eine angeblich europafeindliche Partei kommen die Stichworte aus den eigenen Reihen.

»Europas Gegner auf dem Vormarsch« konnte man am 28. Februar auf faz.net lesen. Doch bekanntlich lehnt Die Linke nicht die EU, sondern den Lissabonner Vertrag ab, mit dem weder ein soziales Europa noch eines der Solidarität unter den Mitgliedsländern zu machen ist. Statt dessen müssen die wirtschaftlich schwächeren Länder ihre Grenzen für Waren, Dienstleistungen und Kapital auch dann weit offen halten, wenn ihnen –wie jetzt in der Krise – die Puste ausgeht. Unterstützung von stärkeren Mitgliedern haben sie nicht zu erwarten. Der Lissabonner Vertrag untersagt ausdrücklich das Einstehen des einen Landes für das andere. Proeuropäisch ist das nicht. Gefördert werden vielmehr Protektionismus und Nationalismus. Ganz anders sieht dies Sylvia-Yvonne Kaufmann, die den Lissabonner Vertrag befürwortet. Erst kürzlich erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Geehrt wurde sie damit, weil sie sich u. a. »beharrlich nationalistischen Angriffen auf das europäische Projekt widersetzt« habe. André Brie sieht bei den Kritikern der EU »nationale Untertöne, die sich eine internationalistische Linke nicht leisten kann« (Frankfurter Rundschau, 24.2.2009). Welch eine Verdrehung der Wirklichkeit!

Bereits im Vorfeld des Parteitags wurde der Vorwurf lanciert, daß »erfahrene Genossen kaltgestellt« werden sollen (FR, 24.2.2009). Nun heißt es: »Die profilierten Linke-Politiker Sylvia-Yvonne Kaufmann und André Brie wurden nicht nominiert« (stern.de, 1.3.2009) und »Parteitag kanzelt langjährige Abgeordnete ab« (FR, 2.3.2009). Die Berliner Zeitung sieht gar »Graue Socken für Europa« auf dem Weg (2.3.2009). Selbst das Neue Deutschland stieß in dieses Horn: »Die endgültige Liste vor Augen, fragte sich manches Parteimitglied, ob es klug war, auf Kompetenz und Erfahrung zweier Europapolitiker wie Kaufmann und Brie zu verzichten« (ND, 1.3.2009). Und das angesichts einer Liste, die von Lothar Bisky angeführt wird, der immerhin Vorsitzender der Europäischen Linkspartei (EL) ist. Auch Helmut Scholz auf Platz acht ist Vorstandsmitglied der EL. Sabine Wils, die zweite auf der Liste, arbeitet im Gewerkschaftsnetzwerk der EL mit. Unter den ersten Zehn finden sich außerdem Martina Michels (Listenplatz neun), die europapolitische Sprecherin der Berliner Abgeordnetenhausfraktion, und die ATTAC-Aktivistin Sabine Lösing (Listenplatz sieben). Sie alle, und noch manch anderer auf den ersten 16 Listenplätzen, sollen also keine erfahrenen Europapolitiker sein? »Erfahren« und »profiliert« ist man für die Medien offensichtlich nur dann, wenn man die EU weitgehend unkritisch sieht.

Es heißt, daß sich die Parteispitze mit ihrem Personalvorschlag nicht habe behaupten können: »Die Linie der Parteiführung hat bis Platz neun gehalten. Danach konnte sich die Spitze bei der Listenaufstellung (...) nicht mehr durchsetzen.« (Spiegel-Online, 1.3.2009). Tatsächlich gab es aber unter den zwölf ersten aussichtsreichen Plätzen nur einen Wechsel. Auf Platz zehn setzte sich Tobias Pflüger gegen den vorgeschlagenen Wilfried Telkämper durch. Auch die Veränderungen auf den weniger chancenreichen Plätzen hielten sich in engen Grenzen. Dennoch glaubt das ND feststellen zu können, daß »die Vorschlagsliste des Bundesausschusses nicht auf ungeteilte Zustimmung traf« (1.3.2009). Das Gegenteil war der Fall. Der Vorschlag erwies sich als viel stabiler als etwa der des Parteivorstandes zur Europawahl 2004. Seinerzeit fielen gleich zwei der für die damals sieben aussichtsreichen Plätze nominierten Kandidaten durch. Eine weitere Legende ist, daß in Essen das zuvor mühsam ausgehandelte Verhältnis zwischen Ost und West infrage gestellt wurde. Dazu hieß es im ND: »Doch nicht alle Delegierten teilten diese Meinung« (1.3.2009).Tatsächlich wurde dieses Schema aber nur einmal durchbrochen. Auf dem weniger aussichtsreichen Platz 14 verdrängte der Wessi Wilfried Telkämper den vorgeschlagenen Ossi Dominic Heilig.

Vergeblich griff Kaufmann in ihrer Kandidatenrede diese West-Ost-Aufteilung der Liste an. Dieser Vorschlag war aber nicht verantwortlich für ihr Scheitern. Sie unterlag sowohl Bewerberinnen aus dem Osten wie dem Westen. Bei ihrer Kandidatur um Platz neun wurde sie gar nur Dritte. Sowohl Kaufmann als auch Brie fehlte einfach die notwendige Zustimmung. Doch André Brie wäre nicht André Brie, würde er den Grund dafür nicht bei anderen suchen: »Ich bin vielen in der Partei zu kritisch. Weil ich immer wieder angemerkt habe, daß Fragen von realistischer Politik noch unterwickelt sind.« (Interview auf www.tagesschau.de, 2.3.2009) Merke: Die Partei ist für den ewigen Vor- und Querdenker eben noch nicht reif für seine Ideen. Sylvia-Yvonne Kaufmann sah sich sogar in ihre alte Partei zurückversetzt: »Ich kam mir auf diesem Parteitag vor wie auf einer schlechten SED-Parteiversammlung. Wenn Sie früher in der SED nur eine klitzekleine kritische Frage hatten, dann wurden Sie mit dem Totschlagargument diszipliniert ›Bist du etwa nicht für den Weltfrieden Genossin?‹ In Essen war es die Frage ›Bist du für oder gegen Lissabon?‹« (Phönix, 2.3.2009)

An in der Partei selbst gelegten Brandsätzen ist also auch in Zukunft kein Mangel. Die medialen Vorwürfe, die Kandidatinnen und Kandidaten der Linken für die Wahlen zum Europäischen Parlament seien inkompetent, gemäß einer starren Ost-West-Quotierung gewählt und vor allem nicht europafreundlich genug, werden uns also wohl noch ein Stück des Weges begleiten.

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