"Ein Revolutionär ist ein Mann mit Bewusstsein und Büro"
Rede von Prof. Dr. Rainer Rilling, Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Eröffnung des Regionalbüros von Tobias Pflüger, MdEP
Ich bin nervös, weil ich kein professioneller Büroeröffner bin. Mein einziger Versuch damit endete in einem Desaster. Es war 1986 und es galt, das Bonner Büro des Bundes demokratischer WissenschaftlerInnen zu eröffnen. Ich fuhr hin, fast zwanzig KollegInnen waren da, ich sprach und nach knapp einer Minute hatte ich Rhein und Ruhr miteinander verwechselt. Das war’s. Der BdWi eröffnete so fünf Jahre später noch ein Berliner Büro. Da fuhr ich nicht hin.
Hier immerhin ist das Risiko geringer. Erstens bin ich echter Schwabe, finde mich also geografisch zurecht, werde hier aber trotzdem nicht Schwäbisch reden. Zweitens befindet sich jener, um den es hier vor allem geht, also Tobias Pflüger, wie wir alle wissen, schon längst in einem abgehobenen Sustand, aus dessen Perspektive solche Unterschiede wie die zwischen Rhein und Ruhr ein nichts sind, denn er hat bekanntlich - leninistisch gesprochen - das höchste und letzte Stadium des Reisekaders erreicht, nämlich das des staatlich alimentierten politischen Reisejunkies. Er kennt die AnsagerInnenstimmen aller großen Flughäfen. Gerade hat er schon wieder dauernd über seine Reisen gesprochen. Tobias ist immer schon da, in allen Erdteilen, in Indien, Afrika, in Brasilien, New York, Mexiko, Palästina, Florenz, London, Paris, Moskau, Türkei, sogar Österreich, überall Tobias, als globaler Katalysator des Guten und atemloses Gespenst, das schon lange nicht mehr bloß in Europa umgeht.
Offensichtlich betreibt er die Selbstmodellierung zum ideellen Gesamtvertreters der Friedensbewegung. Wie alles Linke verlangt auch dieses Konzept politischer Mobilität natürlich die Einheit von Theorie und Praxis, Tun und Denken, Wesen und Erscheinung. Und da liegt doch ein gewisses Problem, kurz gesagt: in zumindest einer Hinsicht ist bei Tobias eine gewisse Unsicherheit bei der Unterscheidung zwischen Selbstmodellierung und Selbst-model-ierung zu verspüren.
Es gibt Filmdokuumente die belegen, wie ein stadtbekanntes Modegeschäft in Siena - oder war`s Volterra? - außerstande war, Deinen Wünschen nach neuartiger Fußbekleidung adäquat nachzukommen.
Auf Fotografien sehen wir hier einen Europarlamentarier, wie er mit einem schwarzen Businesstäschchen vor einem weltbekannten Londoner Gebäude posiert, bevor er sich wieder zu dem Tagungsort des Europäischen Sozialforums begab, in dem bekanntlich vor knapp einem Jahrhundert noch der deutsche Anarchist Rudolf Rocker geschmachtet hat. Und was hat er dort gemacht?
Wir sehen ihn hier in einer vorgeblich reflexiven, tatsächlich aber deutlich selbstverliebten europapolitisch-antimilitaristischen Optimismuspräsentationsattitüde, auf einem roten Teppich! Und erneut in diesem beeschen (beigen) Mantel. Ich wiederhole: in einem beeschen Mantel!
Ein Gespenst, das in einem beeschen Umhang umgeht!! Es reicht ja völlig aus, in die Volltextsuche der digitalisierten Ausgewählten Werke von Marx und Engels die Wortkombination "Gespenst" und "Beesch" einzugeben und die Grundproblematik wird klar: "Null Treffer".
Das erste Substantiv des kommunistischen Manifests ist "Gespenst": "Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus." Von "beesch" aber ist dort keine Rede.
Friedrich Engels schrieb bereits in seinem Text "Die Rolle der Gewalt in der Geschichte", MEW Bd. 21, S. 452, dass "die deutsche Bourgeoisie überhaupt seit 1848 das rote Gespenst nicht wieder loswurde" …"Was aber", so heisst im Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a., MEW 19, S. 162, "ist das Geheimnis des roten Gespensts, wenn nicht die Angst der Bourgeoisie vor dem unausbleiblichen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihr und dem Proletariat? Die Angst vor der unabwendbaren Entscheidung des modernen Klassenkampfs?"
Kurz: bei einem so kapitalen Fehlgriff in der politischen Farbenlehre kann von einer werkgerechten Erscheinungsästhetik, die der Bourgeosie ordentlich Angst einjagt nicht einmal im Ansatz gesprochen werden. Es mangelt Linken wie Dir an einer ordentlichen politischen Farb- und Stilberatung.
Hier muss, lieber Tobias deutlich nachgebessert werden, denn es gibt ja in unserer Epoche wirklich einen jähen Bedarf nach Gespenstern, weshalb es gut ist, wenn gerade die wenigen bereits vorhandenen Gespenster auch noch ein Büro bekommen, das ungemein die soziale und politische Identifizierung erleichtert, wie wir seit 1957 wissen, als der originelle DDR-Schreiber und Literat Erwin Strittmatter so unvergleichlich kurz definierte, was in der DDR damals ein Revolutionär war: "Ein Mann mit Bewusstsein und Büro." Auch hier wieder also der Einheitsgedanke, was damals bloß für die DDR galt, gilt ab heute auch verschärft für Tübingen.
Tobias war am 6. Januar 2004 von 13.45 bis 14.10 Uhr im Zimmer 403 der Rosa-Luxemburg-Stiftung im 4. Stock des Bürohauses (es heißt wirklich offiziell: "Bürohaus"!) am Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin und hat offenbar in dieser Zeit beschlossen, dass er zu seinem Bewusstsein noch ein zusätzliches Büro benötigt.
Die Rosa Luxemburg Stiftung ist mit ihm nicht nur deshalb verbunden, weil einige von uns ihn wirklich substantiell unterstützt haben bei der Erfindung, Durchsetzung und dann auch erfolgreichen Realisierung seiner Kandidatur. Wer die Position eines parteiischen, auch parteinahen, aber parteilosen Abgeordneten einnimmt - und das ist schwer! - steht für einen Typus politischer Akteure, der wichtig ist vor allem in Zeiten, wo Parteipolitik sich in den Vordergrund schiebt (wenn also beispielsweise Wahlen stattfinden). Sie sind nicht unwichtig, wenn es gilt, die scheinbar so zwingenden und sachgesetzlichen Blindheiten, Borniertheiten und Zuspitzungen, die mit dem Kampf um Macht verbunden sind, zu durchlöchern. Diese Typus schätzt Vielfalt und Unterschied, Diversität und Differenz, weshalb er gerne reist. Er ist Fachmann im building alliances, aber mit Schärfe und Radikalität, wenn es sein muss. Er muss viel aushalten und die Eigenschaft der Souveränität entwickeln, denn die oftmals krass unterschiedlichen und widersprüchlichen Milieus, in denen er operiert, traktieren ihn ununterbrochen mit Unterschieden - weshalb seine politische Praxis oft postmodern ist, was er gar nicht merkt. Souverän sein heißt aber nicht: über den Dingen stehen, sich nicht engagieren, indifferent, gleichgültig sein. Demokratisch souverän sein heißt, Vielfalt zu begreifen und Vielfältigkeit zu fördern - politische Gemeinsamkeit, Konsens und Gemeinschaftlichkeit im Handeln und seinen Zielsetzungen setzt Vielfalt und Singularität voraus.
Dieser Typus des Politikers muss sicher auch selbst Unterschiede machen, gerade wenn er Borniertheit wittert. Aber vor allem, um eines dieser alten Wörter anzurufen: er muss unter den neuen Bedingungen der Armut der Vielfalt und vielfältigen Armut solidarisch sein. In der Hartz-Zeit bringt auch dieser Typus des Linken ein linkes Verständnisses von Solidarität nach vorne, das ihr nicht streitig gemacht werden können. Sie steht für politische Sensibilität für die Normalpraktiken der Abwertung, Aberkennung, Diskriminierung und Ungleichheit des gegenwärtigen Kapitalismus. Die Linke muss die politische Kraft sein, die sensibel ist für jede Form von Abwertung der Menschen und dagegen Front macht und zeigt, was Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Aberkennungspraktiken den Menschen an kulturellen und sozialen Möglichkeitsräumen und Zukünften für sie und ihre Kinder verbauen und zerstören.
Solche Abwertungspraktiken und -kulturen, Ungleichheit und Praxen der Ungerechtigkeit konstruieren oder reproduzieren allesamt eine Beziehung und ein Gefälle der Macht oder Herrschaft. Das Soziale und das Politische gehören daher zusammen - der Kampf für soziale Gerechtigkeit scheitert, wenn er nicht zugleich verknüpft ist mit einer vitalen, offenen und risikofreudigen Machtkritik. Die Linke muss das Soziale als Kern der allgemeinen Würde des Menschen (Selbstbestimmung) aufgreifen. Ich glaube, wer sich lebensgeschichtlich dem Kampf gegen Gewalt und Militär verschrieben hat, steht gegen die radikalste Praxis von Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Abwertung, Diskriminierung, Entwürdigung und verdient jeden Respekt.
Noch einmal zum Gespenst zurück, das ja auch in Europa umgeht. In Deutschland fehlt es eigentlich. Nur hin und wieder blitzt ein Leintuchzipfel auf. Obwohl die Leistungsfähigkeit des neoliberalen Projekts sinkt, geht keine Furcht um bei den herrschenden Eliten. Und deshalb noch eine Abschlussbemerkung zur aktuellen politischen Lage mit Blick auf 2006.
Die Linke erledigt sich gegenwärtig wahlpolitisch selbst. Im Moment macht sie, grotesk genug, ihre gesamte weitere parteipolitische Formierung von einer Landtagswahl abhängig. Für 2006 aber gilt: Zweimal weniger als fünf Prozent ist parlamentarisch immer Null. Gerade jene, die Spielräume jenseits unmittelbar parteipolitischer Bindungen haben sind gefordert, der Linken nach der NRW-Landtagswahl zu einer ganz unerwarteten politischen Dynamik zu verhelfen. Die Linke muss über ihren Schatten springen und mit ihren Inhalten auch machtpolitisch ernst machen - nicht im Sinne einer verengten "Realpolitik", sondern einer realistischen Ausnutzung ihrer Möglichkeiten für ein längerfristiges Projekt, das den Umstieg in einen anderen postneoliberalen Entwicklungspfad schaffen will.
Ebenso wie schrittweise das Projekt einer Europäischen Linkspartei eine unikale Attraktivität entwickelt oder wie die geopolitische Erfindung der Sozialforumsbewegung eine politische Dynamik im globalen Raum freisetzte, könnte das entschiedene Vorhaben einer langfristigen Umgründung der deutschen Parteilinken ("Rifondacione") Interesse, Begeisterung, Vertrauen, Engagement und nachhaltige Zukunftserwartungen wecken, ein Lebens- und Generationsprojekt werden. Eine schnelle Initiative für eine wahlpolitisch aussichtsreiche, kluge, pragmatische und zukunftsfähige Kooperation und Einigung auf ein praktikables einheitliches Wahlprojekt ist die Voraussetzung dafür. Dies muss auch Sache der linken Parteien sein, wird aber scheitern, wenn es dabei bleibt. Gerade die westdeutsche Linke muss dafür das Phantom ihrer langjährigen Wirkungslosigkeit (und die Gewöhnung daran) verscheuchen. Lange genug hat sich die deutsche Linke geleistet, dass ihre parteipolitischen Projekte aufgrund ihrer egoistischen Engführung weit hinter ihrer real existierenden politisch-kulturellen Reichweite und antihegemonialen Kraft zurückblieben.
Nur die Linke kann den Verhältnissen das Gespenst geben, das sie verdienen. Denn, wie Jacques Derrida zutreffend bemerkte: "Die Zukunft kann nur den Gespenstern gehören."
Ich bin nervös, weil ich kein professioneller Büroeröffner bin. Mein einziger Versuch damit endete in einem Desaster. Es war 1986 und es galt, das Bonner Büro des Bundes demokratischer WissenschaftlerInnen zu eröffnen. Ich fuhr hin, fast zwanzig KollegInnen waren da, ich sprach und nach knapp einer Minute hatte ich Rhein und Ruhr miteinander verwechselt. Das war’s. Der BdWi eröffnete so fünf Jahre später noch ein Berliner Büro. Da fuhr ich nicht hin.
Hier immerhin ist das Risiko geringer. Erstens bin ich echter Schwabe, finde mich also geografisch zurecht, werde hier aber trotzdem nicht Schwäbisch reden. Zweitens befindet sich jener, um den es hier vor allem geht, also Tobias Pflüger, wie wir alle wissen, schon längst in einem abgehobenen Sustand, aus dessen Perspektive solche Unterschiede wie die zwischen Rhein und Ruhr ein nichts sind, denn er hat bekanntlich - leninistisch gesprochen - das höchste und letzte Stadium des Reisekaders erreicht, nämlich das des staatlich alimentierten politischen Reisejunkies. Er kennt die AnsagerInnenstimmen aller großen Flughäfen. Gerade hat er schon wieder dauernd über seine Reisen gesprochen. Tobias ist immer schon da, in allen Erdteilen, in Indien, Afrika, in Brasilien, New York, Mexiko, Palästina, Florenz, London, Paris, Moskau, Türkei, sogar Österreich, überall Tobias, als globaler Katalysator des Guten und atemloses Gespenst, das schon lange nicht mehr bloß in Europa umgeht.
Offensichtlich betreibt er die Selbstmodellierung zum ideellen Gesamtvertreters der Friedensbewegung. Wie alles Linke verlangt auch dieses Konzept politischer Mobilität natürlich die Einheit von Theorie und Praxis, Tun und Denken, Wesen und Erscheinung. Und da liegt doch ein gewisses Problem, kurz gesagt: in zumindest einer Hinsicht ist bei Tobias eine gewisse Unsicherheit bei der Unterscheidung zwischen Selbstmodellierung und Selbst-model-ierung zu verspüren.
Es gibt Filmdokuumente die belegen, wie ein stadtbekanntes Modegeschäft in Siena - oder war`s Volterra? - außerstande war, Deinen Wünschen nach neuartiger Fußbekleidung adäquat nachzukommen.

Wir sehen ihn hier in einer vorgeblich reflexiven, tatsächlich aber deutlich selbstverliebten europapolitisch-antimilitaristischen Optimismuspräsentationsattitüde, auf einem roten Teppich! Und erneut in diesem beeschen (beigen) Mantel. Ich wiederhole: in einem beeschen Mantel!

Das erste Substantiv des kommunistischen Manifests ist "Gespenst": "Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus." Von "beesch" aber ist dort keine Rede.
Friedrich Engels schrieb bereits in seinem Text "Die Rolle der Gewalt in der Geschichte", MEW Bd. 21, S. 452, dass "die deutsche Bourgeoisie überhaupt seit 1848 das rote Gespenst nicht wieder loswurde" …"Was aber", so heisst im Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a., MEW 19, S. 162, "ist das Geheimnis des roten Gespensts, wenn nicht die Angst der Bourgeoisie vor dem unausbleiblichen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihr und dem Proletariat? Die Angst vor der unabwendbaren Entscheidung des modernen Klassenkampfs?"
Kurz: bei einem so kapitalen Fehlgriff in der politischen Farbenlehre kann von einer werkgerechten Erscheinungsästhetik, die der Bourgeosie ordentlich Angst einjagt nicht einmal im Ansatz gesprochen werden. Es mangelt Linken wie Dir an einer ordentlichen politischen Farb- und Stilberatung.
Hier muss, lieber Tobias deutlich nachgebessert werden, denn es gibt ja in unserer Epoche wirklich einen jähen Bedarf nach Gespenstern, weshalb es gut ist, wenn gerade die wenigen bereits vorhandenen Gespenster auch noch ein Büro bekommen, das ungemein die soziale und politische Identifizierung erleichtert, wie wir seit 1957 wissen, als der originelle DDR-Schreiber und Literat Erwin Strittmatter so unvergleichlich kurz definierte, was in der DDR damals ein Revolutionär war: "Ein Mann mit Bewusstsein und Büro." Auch hier wieder also der Einheitsgedanke, was damals bloß für die DDR galt, gilt ab heute auch verschärft für Tübingen.
Tobias war am 6. Januar 2004 von 13.45 bis 14.10 Uhr im Zimmer 403 der Rosa-Luxemburg-Stiftung im 4. Stock des Bürohauses (es heißt wirklich offiziell: "Bürohaus"!) am Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin und hat offenbar in dieser Zeit beschlossen, dass er zu seinem Bewusstsein noch ein zusätzliches Büro benötigt.
Die Rosa Luxemburg Stiftung ist mit ihm nicht nur deshalb verbunden, weil einige von uns ihn wirklich substantiell unterstützt haben bei der Erfindung, Durchsetzung und dann auch erfolgreichen Realisierung seiner Kandidatur. Wer die Position eines parteiischen, auch parteinahen, aber parteilosen Abgeordneten einnimmt - und das ist schwer! - steht für einen Typus politischer Akteure, der wichtig ist vor allem in Zeiten, wo Parteipolitik sich in den Vordergrund schiebt (wenn also beispielsweise Wahlen stattfinden). Sie sind nicht unwichtig, wenn es gilt, die scheinbar so zwingenden und sachgesetzlichen Blindheiten, Borniertheiten und Zuspitzungen, die mit dem Kampf um Macht verbunden sind, zu durchlöchern. Diese Typus schätzt Vielfalt und Unterschied, Diversität und Differenz, weshalb er gerne reist. Er ist Fachmann im building alliances, aber mit Schärfe und Radikalität, wenn es sein muss. Er muss viel aushalten und die Eigenschaft der Souveränität entwickeln, denn die oftmals krass unterschiedlichen und widersprüchlichen Milieus, in denen er operiert, traktieren ihn ununterbrochen mit Unterschieden - weshalb seine politische Praxis oft postmodern ist, was er gar nicht merkt. Souverän sein heißt aber nicht: über den Dingen stehen, sich nicht engagieren, indifferent, gleichgültig sein. Demokratisch souverän sein heißt, Vielfalt zu begreifen und Vielfältigkeit zu fördern - politische Gemeinsamkeit, Konsens und Gemeinschaftlichkeit im Handeln und seinen Zielsetzungen setzt Vielfalt und Singularität voraus.
Dieser Typus des Politikers muss sicher auch selbst Unterschiede machen, gerade wenn er Borniertheit wittert. Aber vor allem, um eines dieser alten Wörter anzurufen: er muss unter den neuen Bedingungen der Armut der Vielfalt und vielfältigen Armut solidarisch sein. In der Hartz-Zeit bringt auch dieser Typus des Linken ein linkes Verständnisses von Solidarität nach vorne, das ihr nicht streitig gemacht werden können. Sie steht für politische Sensibilität für die Normalpraktiken der Abwertung, Aberkennung, Diskriminierung und Ungleichheit des gegenwärtigen Kapitalismus. Die Linke muss die politische Kraft sein, die sensibel ist für jede Form von Abwertung der Menschen und dagegen Front macht und zeigt, was Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Aberkennungspraktiken den Menschen an kulturellen und sozialen Möglichkeitsräumen und Zukünften für sie und ihre Kinder verbauen und zerstören.
Solche Abwertungspraktiken und -kulturen, Ungleichheit und Praxen der Ungerechtigkeit konstruieren oder reproduzieren allesamt eine Beziehung und ein Gefälle der Macht oder Herrschaft. Das Soziale und das Politische gehören daher zusammen - der Kampf für soziale Gerechtigkeit scheitert, wenn er nicht zugleich verknüpft ist mit einer vitalen, offenen und risikofreudigen Machtkritik. Die Linke muss das Soziale als Kern der allgemeinen Würde des Menschen (Selbstbestimmung) aufgreifen. Ich glaube, wer sich lebensgeschichtlich dem Kampf gegen Gewalt und Militär verschrieben hat, steht gegen die radikalste Praxis von Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Abwertung, Diskriminierung, Entwürdigung und verdient jeden Respekt.
Noch einmal zum Gespenst zurück, das ja auch in Europa umgeht. In Deutschland fehlt es eigentlich. Nur hin und wieder blitzt ein Leintuchzipfel auf. Obwohl die Leistungsfähigkeit des neoliberalen Projekts sinkt, geht keine Furcht um bei den herrschenden Eliten. Und deshalb noch eine Abschlussbemerkung zur aktuellen politischen Lage mit Blick auf 2006.
Die Linke erledigt sich gegenwärtig wahlpolitisch selbst. Im Moment macht sie, grotesk genug, ihre gesamte weitere parteipolitische Formierung von einer Landtagswahl abhängig. Für 2006 aber gilt: Zweimal weniger als fünf Prozent ist parlamentarisch immer Null. Gerade jene, die Spielräume jenseits unmittelbar parteipolitischer Bindungen haben sind gefordert, der Linken nach der NRW-Landtagswahl zu einer ganz unerwarteten politischen Dynamik zu verhelfen. Die Linke muss über ihren Schatten springen und mit ihren Inhalten auch machtpolitisch ernst machen - nicht im Sinne einer verengten "Realpolitik", sondern einer realistischen Ausnutzung ihrer Möglichkeiten für ein längerfristiges Projekt, das den Umstieg in einen anderen postneoliberalen Entwicklungspfad schaffen will.
Ebenso wie schrittweise das Projekt einer Europäischen Linkspartei eine unikale Attraktivität entwickelt oder wie die geopolitische Erfindung der Sozialforumsbewegung eine politische Dynamik im globalen Raum freisetzte, könnte das entschiedene Vorhaben einer langfristigen Umgründung der deutschen Parteilinken ("Rifondacione") Interesse, Begeisterung, Vertrauen, Engagement und nachhaltige Zukunftserwartungen wecken, ein Lebens- und Generationsprojekt werden. Eine schnelle Initiative für eine wahlpolitisch aussichtsreiche, kluge, pragmatische und zukunftsfähige Kooperation und Einigung auf ein praktikables einheitliches Wahlprojekt ist die Voraussetzung dafür. Dies muss auch Sache der linken Parteien sein, wird aber scheitern, wenn es dabei bleibt. Gerade die westdeutsche Linke muss dafür das Phantom ihrer langjährigen Wirkungslosigkeit (und die Gewöhnung daran) verscheuchen. Lange genug hat sich die deutsche Linke geleistet, dass ihre parteipolitischen Projekte aufgrund ihrer egoistischen Engführung weit hinter ihrer real existierenden politisch-kulturellen Reichweite und antihegemonialen Kraft zurückblieben.
Nur die Linke kann den Verhältnissen das Gespenst geben, das sie verdienen. Denn, wie Jacques Derrida zutreffend bemerkte: "Die Zukunft kann nur den Gespenstern gehören."
Tobias Pflüger - 2005/04/13 02:15
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