Die Charta der Vereinten Nationen und die PDS
Brief von Lothar Bisky und Gregor Gysi an die Mitglieder der PDS vom 08.11.1999
Liebe Genossinnen und Genossen,
Beschlüsse des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion erregen gegenwärtig - nicht nur - aber vor allem die Gemüter in der PDS. Das ist gut so, weil es nicht häufig das Schicksal unserer Beschlüsse bestimmt. Streit in einer demokratisch-sozialistischen Partei ist lebensnotwendig. Aber klar sollte sein, worüber gestritten wird.
Worin sind wir uns einig, und wo gibt es eine Differenz? Wir sind uns einig in der Ablehnung von Krieg als Mittel der Politik und von internationalen Einsätzen der Bundeswehr, in der Forderung nach zivilgesellschaftlichen Methoden zur Konfliktvorbeugung und –bewältigung, nach einer sozial gerechten Weltordnung zur Vermeidung von Konflikten, nach Abrüstung, Rüstungsexportverbot, Streitkräftereduzierung und im Kampf gegen imperiale Bestrebungen von Groß- und Industriemächten, insbesondere, wenn diese mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden sollen, kurzum, im antimilitaristischen Charakter unserer Partei. Niemand kann ernsthaft wollen, diesen zur Disposition zu stellen.
Die Differenz liegt woanders:
Die Charta der Vereinten Nationen wird täglich stärker von den Regierungen der USA, Deutschlands und anderer Staaten infrage gestellt. Sie ist aber das wichtigste Dokument des demokratischen Völkerrechtes, das in diesem Jahrhundert beschlossen wurde. Nachdem die USA als einzige Weltmacht verblieben sind, stört sie diese Charta - wie die UNO überhaupt – bei der Durchsetzung ihres imperialen Anspruches als Weltpolizist zu agieren. Unsere Aufgabe ist es, die Charta und die UNO zu verteidigen und gleichzeitig deren demokratische Reform einzufordern.
Natürlich versuchen die USA, Deutschland und andere, die UNO für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das gelingt häufig, aber nicht immer, wie zum Beispiel bei der Weigerung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, den Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien zu legitimieren. Ein Beschluss ist am Veto Russlands und Chinas gescheitert.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen darf nach Kapitel VII der Charta zur Unterbindung einer Aggression oder zur Abwendung einer Gefahr für den Frieden ausnahmsweise militärische Maßnahmen androhen, anordnen oder legitimieren. Wer die Charta verteidigt, hat nach unserer Auffassung auch dieses Kapitel zu respektieren. Die Beschlüsse des Sicherheitsrates nach Kapitel VII können im Einzelfall die Charta selbst verletzen, aus anderen Gründen falsch oder eben auch richtig sein. Parteivorstand und Bundestagsfraktion haben lediglich erklärt, im Falle eines solchen Sicherheitsratsbeschlusses im Einzelfall zu prüfen, ob man ihn ablehnen müsse oder ihm zustimmen könne. Wenn der Sicherheitsrat, wie die PDS-nahe Jugendorganisation zurecht befürchtet, sich von den USA instrumentalisieren lässt, dann werden wir dies sagen und unter anderem mit dieser Begründung einen entsprechenden Beschluss des Sicherheitsrates kritisieren. Aber es gibt eben auch andere Fälle.
In seiner Geschichte hat der Sicherheitsrat sieben Mal Kapitel VII der Charta angewandt, von Korea bis Ost-Timor. In fünf Fällen hätten wir unseres Erachtens die Beschlüsse strikt ablehnen müssen, so wie wir es tatsächlich bei den Interventionen gegen den Irak und gegen Somalia getan haben. Nur im Falle Haitis und Ost-Timors hätten wir unserer Auffassung nach die Anwendung des Kapitels VII nicht ablehnen dürfen. In Haiti wurde der demokratisch gewählte Präsident Aristide von reaktionären Militärs gestürzt, Teile der Bevölkerung wurden massakriert. Der Sicherheitsrat erklärte den Frieden für gefährdet und entsandte Truppen, die das Militär - zumindest zum Teil – entmachteten und Aristide wieder einsetzten. In Ost-Timor musste ein wirklicher Völkermord gestoppt, die durch Volksentscheid bestimmte Unabhängigkeit hergestellt, und die völkerrechtswidrige Besetzung durch Indonesien, beendet werden. In einem dritten Fall hätten wir wahrscheinlich sogar kritisieren sollen, dass der Sicherheitsrat keinen Beschluss gefasst und umgesetzt hat - beim Völkermord in Ruanda.
Nur, wenn wir uns jeden diesbezüglichen Beschluss des Sicherheitsrates genau ansehen und bewerten, bleiben wir glaubwürdig. Wer das Kapitel VII der Charta generell ablehnt, braucht keine spezifischen politischen Gründe zur Ablehnung einzelner Beschlüsse des Sicherheitsrates und wird unglaubwürdig, wenn er sie dennoch vorträgt. Letztlich respektiert er die Charta der Vereinten Nationen als Ganzes ebenso wenig wie andere, denen er dies vorwirft. Es geht um die Charta, nicht um Krieg oder Frieden, diesbezüglich hat die PDS klar entschieden. Und wer eine Einzelfallprüfung bei Sicherheitsratsbeschlüssen vornimmt, gibt damit keinesfalls zu erkennen, dass er etwa der Mehrzahl solcher Beschlüsse zustimmen wolle. Er will aber im Falle einer Ablehnung glaubwürdiger werden. Und keinesfalls will er den Einsatz der Bundeswehr, die für die Umsetzung solcher Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen aus einer Vielzahl politischer und historischer Gründe völlig ungeeignet ist, was auch für andere Großmächte gilt.
Die, die heute protestieren, fragen wir, wo ihr Protest blieb, als wir nach Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der NATO gegen Jugoslawien nicht nur sein Ende, sondern auch forderten, dass UN-Truppen ohne Beteiligung von NATO-Staaten die Rückkehr der Flüchtlinge in den Kosovo auf Beschluss des Sicherheitsrates sichern sollten. Aus der PDS gab es zu unserem Friedensvorschlag nur Zustimmung.
Wir müssen auch aufpassen, uns international nicht zu isolieren. Die linke Fraktion im Europäischen Parlament, der wir angehören, besteht aus vierzehn nationalen Parteien. Zwölf dieser Parteien haben einen Antrag an das Europäische Parlament unterzeichnet, in dem der Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu Ost-Timor in Übereinstimmung mit der Befreiungsbewegung Ost-Timors begrüßt und unterstützt wird. An der Antragstellung beteiligten sich lediglich die Vertreterinnen und Vertreter der niederländischen Partei und der PDS nicht. Die Position unserer Genossinnen und Genossen dort, von vornherein jeglichen Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der Charta abzulehnen, wurde von der großen Mehrheit in der linken Fraktion nicht geteilt. Wir wollen nicht, dass der Eindruck entsteht, nur die PDS und die niederländische Partei besäßen einen wirklich antimilitaristischen Charakter, die übrigen linken Parteien Europas, die im Europäischen Parlament vertreten sind, dagegen nicht. Unter ihnen befinden sich demokratisch-sozialistische, reformkommunistische und andere linke Parteien mit jahrzehntelanger antimilitaristischer Tradition. Sie hatten schon immer die Position zur Charta der Vereinten Nationen einschließlich des Kapitels VII, wie sie in den jüngsten Beschlüssen des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion ausgedrückt wird.
Auf dem kommenden Parteitag sollten und werden wir über diese Fragen sachlich weiterdiskutieren. Das können wir auch, denn niemand will den Charakter der PDS als Antikriegspartei verändern.
Mit solidarischen Grüßen
Lothar Bisky - Gregor Gysi
Berlin, den 8. November 1999
Liebe Genossinnen und Genossen,
Beschlüsse des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion erregen gegenwärtig - nicht nur - aber vor allem die Gemüter in der PDS. Das ist gut so, weil es nicht häufig das Schicksal unserer Beschlüsse bestimmt. Streit in einer demokratisch-sozialistischen Partei ist lebensnotwendig. Aber klar sollte sein, worüber gestritten wird.
Worin sind wir uns einig, und wo gibt es eine Differenz? Wir sind uns einig in der Ablehnung von Krieg als Mittel der Politik und von internationalen Einsätzen der Bundeswehr, in der Forderung nach zivilgesellschaftlichen Methoden zur Konfliktvorbeugung und –bewältigung, nach einer sozial gerechten Weltordnung zur Vermeidung von Konflikten, nach Abrüstung, Rüstungsexportverbot, Streitkräftereduzierung und im Kampf gegen imperiale Bestrebungen von Groß- und Industriemächten, insbesondere, wenn diese mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden sollen, kurzum, im antimilitaristischen Charakter unserer Partei. Niemand kann ernsthaft wollen, diesen zur Disposition zu stellen.
Die Differenz liegt woanders:
Die Charta der Vereinten Nationen wird täglich stärker von den Regierungen der USA, Deutschlands und anderer Staaten infrage gestellt. Sie ist aber das wichtigste Dokument des demokratischen Völkerrechtes, das in diesem Jahrhundert beschlossen wurde. Nachdem die USA als einzige Weltmacht verblieben sind, stört sie diese Charta - wie die UNO überhaupt – bei der Durchsetzung ihres imperialen Anspruches als Weltpolizist zu agieren. Unsere Aufgabe ist es, die Charta und die UNO zu verteidigen und gleichzeitig deren demokratische Reform einzufordern.
Natürlich versuchen die USA, Deutschland und andere, die UNO für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das gelingt häufig, aber nicht immer, wie zum Beispiel bei der Weigerung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, den Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien zu legitimieren. Ein Beschluss ist am Veto Russlands und Chinas gescheitert.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen darf nach Kapitel VII der Charta zur Unterbindung einer Aggression oder zur Abwendung einer Gefahr für den Frieden ausnahmsweise militärische Maßnahmen androhen, anordnen oder legitimieren. Wer die Charta verteidigt, hat nach unserer Auffassung auch dieses Kapitel zu respektieren. Die Beschlüsse des Sicherheitsrates nach Kapitel VII können im Einzelfall die Charta selbst verletzen, aus anderen Gründen falsch oder eben auch richtig sein. Parteivorstand und Bundestagsfraktion haben lediglich erklärt, im Falle eines solchen Sicherheitsratsbeschlusses im Einzelfall zu prüfen, ob man ihn ablehnen müsse oder ihm zustimmen könne. Wenn der Sicherheitsrat, wie die PDS-nahe Jugendorganisation zurecht befürchtet, sich von den USA instrumentalisieren lässt, dann werden wir dies sagen und unter anderem mit dieser Begründung einen entsprechenden Beschluss des Sicherheitsrates kritisieren. Aber es gibt eben auch andere Fälle.
In seiner Geschichte hat der Sicherheitsrat sieben Mal Kapitel VII der Charta angewandt, von Korea bis Ost-Timor. In fünf Fällen hätten wir unseres Erachtens die Beschlüsse strikt ablehnen müssen, so wie wir es tatsächlich bei den Interventionen gegen den Irak und gegen Somalia getan haben. Nur im Falle Haitis und Ost-Timors hätten wir unserer Auffassung nach die Anwendung des Kapitels VII nicht ablehnen dürfen. In Haiti wurde der demokratisch gewählte Präsident Aristide von reaktionären Militärs gestürzt, Teile der Bevölkerung wurden massakriert. Der Sicherheitsrat erklärte den Frieden für gefährdet und entsandte Truppen, die das Militär - zumindest zum Teil – entmachteten und Aristide wieder einsetzten. In Ost-Timor musste ein wirklicher Völkermord gestoppt, die durch Volksentscheid bestimmte Unabhängigkeit hergestellt, und die völkerrechtswidrige Besetzung durch Indonesien, beendet werden. In einem dritten Fall hätten wir wahrscheinlich sogar kritisieren sollen, dass der Sicherheitsrat keinen Beschluss gefasst und umgesetzt hat - beim Völkermord in Ruanda.
Nur, wenn wir uns jeden diesbezüglichen Beschluss des Sicherheitsrates genau ansehen und bewerten, bleiben wir glaubwürdig. Wer das Kapitel VII der Charta generell ablehnt, braucht keine spezifischen politischen Gründe zur Ablehnung einzelner Beschlüsse des Sicherheitsrates und wird unglaubwürdig, wenn er sie dennoch vorträgt. Letztlich respektiert er die Charta der Vereinten Nationen als Ganzes ebenso wenig wie andere, denen er dies vorwirft. Es geht um die Charta, nicht um Krieg oder Frieden, diesbezüglich hat die PDS klar entschieden. Und wer eine Einzelfallprüfung bei Sicherheitsratsbeschlüssen vornimmt, gibt damit keinesfalls zu erkennen, dass er etwa der Mehrzahl solcher Beschlüsse zustimmen wolle. Er will aber im Falle einer Ablehnung glaubwürdiger werden. Und keinesfalls will er den Einsatz der Bundeswehr, die für die Umsetzung solcher Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen aus einer Vielzahl politischer und historischer Gründe völlig ungeeignet ist, was auch für andere Großmächte gilt.
Die, die heute protestieren, fragen wir, wo ihr Protest blieb, als wir nach Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der NATO gegen Jugoslawien nicht nur sein Ende, sondern auch forderten, dass UN-Truppen ohne Beteiligung von NATO-Staaten die Rückkehr der Flüchtlinge in den Kosovo auf Beschluss des Sicherheitsrates sichern sollten. Aus der PDS gab es zu unserem Friedensvorschlag nur Zustimmung.
Wir müssen auch aufpassen, uns international nicht zu isolieren. Die linke Fraktion im Europäischen Parlament, der wir angehören, besteht aus vierzehn nationalen Parteien. Zwölf dieser Parteien haben einen Antrag an das Europäische Parlament unterzeichnet, in dem der Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu Ost-Timor in Übereinstimmung mit der Befreiungsbewegung Ost-Timors begrüßt und unterstützt wird. An der Antragstellung beteiligten sich lediglich die Vertreterinnen und Vertreter der niederländischen Partei und der PDS nicht. Die Position unserer Genossinnen und Genossen dort, von vornherein jeglichen Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der Charta abzulehnen, wurde von der großen Mehrheit in der linken Fraktion nicht geteilt. Wir wollen nicht, dass der Eindruck entsteht, nur die PDS und die niederländische Partei besäßen einen wirklich antimilitaristischen Charakter, die übrigen linken Parteien Europas, die im Europäischen Parlament vertreten sind, dagegen nicht. Unter ihnen befinden sich demokratisch-sozialistische, reformkommunistische und andere linke Parteien mit jahrzehntelanger antimilitaristischer Tradition. Sie hatten schon immer die Position zur Charta der Vereinten Nationen einschließlich des Kapitels VII, wie sie in den jüngsten Beschlüssen des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion ausgedrückt wird.
Auf dem kommenden Parteitag sollten und werden wir über diese Fragen sachlich weiterdiskutieren. Das können wir auch, denn niemand will den Charakter der PDS als Antikriegspartei verändern.
Mit solidarischen Grüßen
Lothar Bisky - Gregor Gysi
Berlin, den 8. November 1999
Tobias Pflüger - 2005/04/20 05:49
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