Europa stand mit am Pranger - Kritik an Kapitalismus und neo-liberaler Politik bestimmte den 1. Mai auf dem Tübinger Marktplatz

Pressebericht in: Schwäbisches Tagblatt, 02.05.2005

TÜBINGEN. Marx, Lenin und Che Guevara grüßten als schwarze Konterfeis vom roten Transparent. Und auch sonst waren immerhin knapp 400 Leute zur gestrigen Maikundgebung auf den Tübinger Marktplatz gekommen. Nach rund einer Stunde Kritik am Kapitalismus im Allgemeinen, und rot-grüner Wirtschafts- wie Europapolitik im Besonderen sowie Beiträgen gegen die neoliberale Hochschulreform, gegen Hartz IV und über die aktuelle Tarifauseinandersetzung am Uni-Klinikum hielt sich die Begeisterung über die Veranstaltung allerdings in Grenzen.

So gute Vorlagen bekommen Gewerkschafter zum 1. Mai selten. Als „Plage“ hatte FDP-Chef Guido Westerwelle sie am Samstag bezeichnet und angekündigt, bei einem Wahlsieg ihre Mitbestimmungs-Rechte massiv zu beschneiden. So war denn auch Dieter Schmid, SPD-Mitglied und langjähriger GEWler, extra aus Mössingen nach Tübingen zur Mai-Demo und Kundgebung gekommen: „Mich hat der Westerwelle hergetrieben.“

Doch Stefan Dreher vom Tübinger DGB-Arbeitskreis hielt sich in seiner Moderation mit FDP-Schelte nicht auf. Und auch sonst erwähnte auf dem Marktplatz niemand die Verunglimpfung seitens des Liberalen-Bosses. „Schade“, fand am Ende der alte Post-Gewerkschafter Herbert Binder.

Nicht nur enttäuscht, sondern massiv verärgert zeigte sich dagegen Tübingens erster Bürgermeister Gerd Weimer nach der Kundgebung unter gleißender Sonne. Seit über 30 Jahren sei er nun dabei, erklärte das SPD-Mitglied. „Aber das war das letzte Mal.“ Weimer sprach von „Sektierertum“ statt „DGB-Positionen“ und machte seine Kritik vor allem am Redebeitrag von Tobias Pflüger fest. Der Europa-Abgeordnete aus den Reihen der PDS hatte die auch von der deutschen Bundesregierung betriebene „neoliberale Wirtschaftspolitik“ in Europa gegeißelt und zur Opposition vor allem gegen die Dienstleistungsrichtlinie und den Verfassungsvertrag aufgefordert. Mit Blick auf die Abstimmung über die europäische Verfassung am 29. Mai in Frankreich sagte Pflüger: „Ich hoffe auf ein Nein.“

Zuvor hatte Angela Hauser, Verdi-Mitglied und Personalrätin am Uni-Klinikum, vor den Folgen von Arbeitszeitverlängerung gewarnt. Die 41-Stundenwoche, wie sie seitens der Arbeitgeber an den vier baden-württembergischen Uni-Klinika im laufenden Tarifstreit gefordert werde, führe zu Stellenstreichungen und sorge für noch mehr Druck auf die Beschäftigten. Schon jetzt sei die Versorgung der Patienten durch Personal-Engpässe gefährdet. „Wir haben viele Überlastanzeigen“, berichtete Hauser und warnte vor dem „Ausverkauf der Kliniken“ durch Privatisierung.

Den kämpferischsten Beitrag hielt der Postler Ali Gharagozlou, ebenfalls Verdi-Mitglied. Der Kapitalismus sei „wie Lepra im Gesicht der Welt“. Allein die „Schande namens Hartz IV“ zeige, „für wie dumm uns diese Kapitalismus-Propheten halten“. Für Tübingen wünschte er sich mehr Teilnehmer an der Montagsdemo, die nicht nur für den heutigen Montag sondern für den ganzen Mai angemeldet sei (18 Uhr, Start Europaplatz).
Den Schulterschluss zwischen Studierenden und Gewerkschaftern demonstrierte Christian Berg vom Arbeitskreis Studiengebühren der Fachschaftsvollversammlung der Tübinger Uni. Bildung werde zur Ware, „die sich nur noch Besser-Verdienende leisten können“. Dabei sei Bildung „kein Luxus, sondern die Grundlage für eine demokratische Gesellschaft und der Schlüssel zu einer erfolgreichen Volkswirtschaft“.

Mit den lautesten Beifall erhielt Thomas Pfister, Betriebsrat und Mitglied im Tübinger „Initiativkreis gegen Ein-Euro-Jobs“. Der Bestandteil der Hartz-Gesetze sei ein Schritt in Richtung „Zwangsbeschäftigung“, erhöhe die Chance der Betroffenen auf einen regulären Arbeitsplatz keineswegs, gefährde im Gegenteil sogar reguläre Arbeitsplätze: Weshalb solle man noch Jobs schaffen, „wenn man auch qualifizierte Leute zwingen kann, das auf Ein-Euro-Basis zu tun?“ Statt der Absenkung des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfeniveau, das in Deutschland „unter der europäischen Armutsgrenze“ liege, forderte Pfister ein „Existenz sicherndes Einkommen für jeden“.

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