Was spricht dafür und dagegen? - Das Unbehagen an der EU-Verfassung
Pressebericht in: tagesschau.de - 17.05.05
Der historische Text macht es einem nicht leicht. 448 Artikel umfasst die erste Verfassung der EU. Was in einem mehrjährigen Prozess von Vertretern der nationalen Parlamente, Regierungen und der Kommission erarbeitet wurde, durchschauen nur wenige Bürger. Nach einer Umfrage für die ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" fühlen sich viele Menschen nicht ausreichend informiert.
Vor allem in Frankreich, wo am 29. Mai die Bürger per Referendum abstimmen werden, bangen die Politiker vor einem Nein. Doch auch in Deutschland, wo der Bundestag am 12. Mai und der Bundesrat am 27. Mai mit einer Zweidrittel-Mehrheit die EU-Verfassung verabschieden soll, werden die Stimmen der Gegner lauter.
Die Argumente gehen dabei von der Kritik an der Festschreibung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik durch den neuen EU-Vertrag über den Vorwurf der Militarisierung der EU-Politik bis hin zur Angst vor einer Schwächung der nationalen Parlamente.
Schwindender Einfluss deutscher Parlamente?
Die Kritik an dem Verfassungswerk reicht bis in die Bundestagsparteien hinein. Ein Teil der Unions-Fraktion beklagt, dass das Papier Brüssel noch mehr Kompetenzen zuordne. Zugleich, so der CSU-Abgeordnete Gerd Müller gegenüber tagesschau.de, werde die europäische Gesetzgebung entparlamentarisiert. Der Bundestag sei nicht mehr als Gesetzgeber tätig, während das Europaparlament nicht das Recht zur Gesetzesinitiative habe.
In einem von 118 Intellektuellen unterschriebenem Aufruf der globalisierungskritischen Bewegung Attac heißt es hierzu, "das parlamentarische Grundrecht auf eigene Gesetzesinitiativen bleibt den Abgeordneten weiterhin vorenthalten". Auch habe das Europaparlament, dessen Abgeordnete von den EU-Bürgern gewählt werden, kein Entscheidungsrecht in der Außen- und Sicherheitspolitik. In vielen Bereichen habe das Parlament lediglich Anhörungsrecht.
Die Unterstützer der Verfassung heben hingegen hervor, dass das Parlament künftig bei rund 80 Prozent der EU-Gesetzgebung ein Veto-Recht besitzt und gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig sein wird.
Die Union will deshalb mit einem Begleitgesetz durchsetzen, dass der Bundestag etwa bei Beschlüssen zur Erweiterung der Union künftig vorher befragt werden muss. Deutsche Minister im Ministerrat sollten an ein Votum des Bundestags gebunden sein. Dies lehnt die Regierung ab.
Präambel ohne Gottesbezug
Viele Unions-Abgeordnete vermissen einen Gottesbezug in der EU-Verfassung, wie er etwa in der Präambel des Grundgesetzes vorkommt. Sie bemängeln, ohne Verweis auf die christlichen Traditionen sei die Verfassungs-Präambel wertfrei.
In allen Parteien gibt es Befürworter eine Volksbefragung zur Verfassung. Am energischsten hat sich hierfür die FDP eingesetzt, während sich für eine europaweite Abstimmung einsetzten. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler hat mit einer einstweiligen Verfügung versucht, die Ratifizierung ohne Volksabstimmung durch das Bundesverfassungsgericht stoppen zu lassen. Zwar scheiterte er in Karlsruhe, erhielt aber von den Richtern das Recht, nach der Ratifizierung erneut zu klagen. Gauweiler vertritt die Ansicht, die EU-Verfassung ersetze wesentliche Teile des Grundgesetzes und müsse deshalb dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.
Verfassungsrang für neoliberale Wirtschaftspolitik
Insbesondere bei der Linken stößt die im dritten Teil des Verfassungsentwurfs festgelegte wirtschaftspolitische Ausrichtung auf Ablehnung. Dort wird der "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" formuliert. Damit, so die Kritik, erhielten neoliberale Bestimmungen Verfassungsrang. Laut Artikel III-179 kann die Kommission eine Stellungnahme direkt an einen Mitgliedstaat richten, dessen Wirtschaftspolitik nicht diesen festgelegten Grundzügen entspricht. Die Beschäftigungs- und Sozialpolitik würde, so die Befürchtung der Verfassungsgegner, den wirtschafspolitischen Grundzügen untergeordnet.
Befürworter der EU-Verfassung verweisen auf die Grundrechte-Charta und den Artikel I-3, in dem sich die Union das Ziel der "Vollbeschäftigung" setzt. Gegner wie Unterzeichner des Attac-Aufrufs warnen dagegen vor einer "einseitigen Orientierung auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität" und den "in Verfassungsrang erhobenen Stabilitätspakt".
Vorwurf der Militarisierung der Außenpolitik
Der Verfassungstext präzisiert die Verteidigungspolitik, deren gemeinsame Entwicklung auch bislang möglich war, nun aber in der Verfahrensweise konkreter geregelt wird. In der Kritik der Gegner steht vor allem die programmatische Aufforderung der Mitgliedstaaten, "ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern" (I-40). Dies sei, so der PDS-Europaabgeordnete Tobias Pflüger, "nichts nderes als eine Aufrüstungsverpflichtung", mit dem Ziel, die EU militärisch als Gegenmacht zu den USA aufzubauen.
Dem Vorwurf der Militarisierung der EU-Außenpolitik und der Sorge vor einer europäischen Aufrüstung halten die Verfassungsbefürworter Artikel I-41 entgegen. Darin wird klargestellt, dass die EU ihre zivilen oder militärischen Operationen nur "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen" tätigen darf. Die Selbstverpflichtung der EU, entsprechend dem UN-Gebot auf eine "mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt" zu verzichten, erhält damit Verfassungsrang. Zudem, so die Verfassungsverfechter, erhalte der Ausbau von zivilen Konfliktlösungen durch die Aufnahme der zivilen Option in den Verfassungstext eine wichtig Grundlage.
Allerdings verpflichten sich die EU-Staaten im Verfassungstext auch zu "Kampfeinsätzen als Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet" (Artikel III-210). Dem wiederum halten die Befürworter Artikel III-309 entgegen. Der beschreibt die Aufgaben von zivilen und militärischen Einsätzen als "gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung".
Gelegenheit für Denkzettel
Die Befürworter der EU-Verfassung müssen schließlich mit einem weiteren Problem kämpfen. Die Kritik an der Verfassung vermischt sich mancherorts mit einer grundlegenden Ablehnung der Europäischen Union in ihrem jetzigen Zustand. Da, wo die Bevölkerung das Wort hat, müssen die Regierungen zudem mit einem Denkzettel für ihre Politik insgesamt rechnen. So sind nach Meinungsumfragen gut zwei Drittel der Bevölkerung unzufrieden mit der Politik von Präsident Jacques Chirac. Dass ein Großteil der Bevölkerung sich über das abstrakte Thema schlecht informiert fühlt, könnte sich so für die Staatsmänner der EU noch als tragisch erweisen.
Stand: 17.05.2005 19:41 Uhr
Der historische Text macht es einem nicht leicht. 448 Artikel umfasst die erste Verfassung der EU. Was in einem mehrjährigen Prozess von Vertretern der nationalen Parlamente, Regierungen und der Kommission erarbeitet wurde, durchschauen nur wenige Bürger. Nach einer Umfrage für die ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" fühlen sich viele Menschen nicht ausreichend informiert.
Vor allem in Frankreich, wo am 29. Mai die Bürger per Referendum abstimmen werden, bangen die Politiker vor einem Nein. Doch auch in Deutschland, wo der Bundestag am 12. Mai und der Bundesrat am 27. Mai mit einer Zweidrittel-Mehrheit die EU-Verfassung verabschieden soll, werden die Stimmen der Gegner lauter.
Die Argumente gehen dabei von der Kritik an der Festschreibung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik durch den neuen EU-Vertrag über den Vorwurf der Militarisierung der EU-Politik bis hin zur Angst vor einer Schwächung der nationalen Parlamente.
Schwindender Einfluss deutscher Parlamente?
Die Kritik an dem Verfassungswerk reicht bis in die Bundestagsparteien hinein. Ein Teil der Unions-Fraktion beklagt, dass das Papier Brüssel noch mehr Kompetenzen zuordne. Zugleich, so der CSU-Abgeordnete Gerd Müller gegenüber tagesschau.de, werde die europäische Gesetzgebung entparlamentarisiert. Der Bundestag sei nicht mehr als Gesetzgeber tätig, während das Europaparlament nicht das Recht zur Gesetzesinitiative habe.
In einem von 118 Intellektuellen unterschriebenem Aufruf der globalisierungskritischen Bewegung Attac heißt es hierzu, "das parlamentarische Grundrecht auf eigene Gesetzesinitiativen bleibt den Abgeordneten weiterhin vorenthalten". Auch habe das Europaparlament, dessen Abgeordnete von den EU-Bürgern gewählt werden, kein Entscheidungsrecht in der Außen- und Sicherheitspolitik. In vielen Bereichen habe das Parlament lediglich Anhörungsrecht.
Die Unterstützer der Verfassung heben hingegen hervor, dass das Parlament künftig bei rund 80 Prozent der EU-Gesetzgebung ein Veto-Recht besitzt und gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig sein wird.
Die Union will deshalb mit einem Begleitgesetz durchsetzen, dass der Bundestag etwa bei Beschlüssen zur Erweiterung der Union künftig vorher befragt werden muss. Deutsche Minister im Ministerrat sollten an ein Votum des Bundestags gebunden sein. Dies lehnt die Regierung ab.
Präambel ohne Gottesbezug
Viele Unions-Abgeordnete vermissen einen Gottesbezug in der EU-Verfassung, wie er etwa in der Präambel des Grundgesetzes vorkommt. Sie bemängeln, ohne Verweis auf die christlichen Traditionen sei die Verfassungs-Präambel wertfrei.
In allen Parteien gibt es Befürworter eine Volksbefragung zur Verfassung. Am energischsten hat sich hierfür die FDP eingesetzt, während sich für eine europaweite Abstimmung einsetzten. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler hat mit einer einstweiligen Verfügung versucht, die Ratifizierung ohne Volksabstimmung durch das Bundesverfassungsgericht stoppen zu lassen. Zwar scheiterte er in Karlsruhe, erhielt aber von den Richtern das Recht, nach der Ratifizierung erneut zu klagen. Gauweiler vertritt die Ansicht, die EU-Verfassung ersetze wesentliche Teile des Grundgesetzes und müsse deshalb dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.
Verfassungsrang für neoliberale Wirtschaftspolitik
Insbesondere bei der Linken stößt die im dritten Teil des Verfassungsentwurfs festgelegte wirtschaftspolitische Ausrichtung auf Ablehnung. Dort wird der "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" formuliert. Damit, so die Kritik, erhielten neoliberale Bestimmungen Verfassungsrang. Laut Artikel III-179 kann die Kommission eine Stellungnahme direkt an einen Mitgliedstaat richten, dessen Wirtschaftspolitik nicht diesen festgelegten Grundzügen entspricht. Die Beschäftigungs- und Sozialpolitik würde, so die Befürchtung der Verfassungsgegner, den wirtschafspolitischen Grundzügen untergeordnet.
Befürworter der EU-Verfassung verweisen auf die Grundrechte-Charta und den Artikel I-3, in dem sich die Union das Ziel der "Vollbeschäftigung" setzt. Gegner wie Unterzeichner des Attac-Aufrufs warnen dagegen vor einer "einseitigen Orientierung auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität" und den "in Verfassungsrang erhobenen Stabilitätspakt".
Vorwurf der Militarisierung der Außenpolitik
Der Verfassungstext präzisiert die Verteidigungspolitik, deren gemeinsame Entwicklung auch bislang möglich war, nun aber in der Verfahrensweise konkreter geregelt wird. In der Kritik der Gegner steht vor allem die programmatische Aufforderung der Mitgliedstaaten, "ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern" (I-40). Dies sei, so der PDS-Europaabgeordnete Tobias Pflüger, "nichts nderes als eine Aufrüstungsverpflichtung", mit dem Ziel, die EU militärisch als Gegenmacht zu den USA aufzubauen.
Dem Vorwurf der Militarisierung der EU-Außenpolitik und der Sorge vor einer europäischen Aufrüstung halten die Verfassungsbefürworter Artikel I-41 entgegen. Darin wird klargestellt, dass die EU ihre zivilen oder militärischen Operationen nur "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen" tätigen darf. Die Selbstverpflichtung der EU, entsprechend dem UN-Gebot auf eine "mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt" zu verzichten, erhält damit Verfassungsrang. Zudem, so die Verfassungsverfechter, erhalte der Ausbau von zivilen Konfliktlösungen durch die Aufnahme der zivilen Option in den Verfassungstext eine wichtig Grundlage.
Allerdings verpflichten sich die EU-Staaten im Verfassungstext auch zu "Kampfeinsätzen als Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet" (Artikel III-210). Dem wiederum halten die Befürworter Artikel III-309 entgegen. Der beschreibt die Aufgaben von zivilen und militärischen Einsätzen als "gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung".
Gelegenheit für Denkzettel
Die Befürworter der EU-Verfassung müssen schließlich mit einem weiteren Problem kämpfen. Die Kritik an der Verfassung vermischt sich mancherorts mit einer grundlegenden Ablehnung der Europäischen Union in ihrem jetzigen Zustand. Da, wo die Bevölkerung das Wort hat, müssen die Regierungen zudem mit einem Denkzettel für ihre Politik insgesamt rechnen. So sind nach Meinungsumfragen gut zwei Drittel der Bevölkerung unzufrieden mit der Politik von Präsident Jacques Chirac. Dass ein Großteil der Bevölkerung sich über das abstrakte Thema schlecht informiert fühlt, könnte sich so für die Staatsmänner der EU noch als tragisch erweisen.
Stand: 17.05.2005 19:41 Uhr
Tobias Pflüger - 2005/05/20 12:57
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