Gestreikt wird nicht - EU-Verfassungsvertrag versagt grenzüberschreitendes Recht auf Arbeitsniederlegung. Müntefering meint, man könne damit »demokratische und soziale Union« schaffen
Artikel in: junge Welt - 23.05.2005 - Martin Hantke
Beim Auftakt seiner Kapitalismuskritik vor wenigen Wochen wurde der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering mit den Worten zitiert: »Die EU müsse sich entscheiden, ob sie dem Markt unter der Überschrift ›Wettbewerb‹ Schneisen schlagen wolle, die auch die sozialstaatlichen Aufgaben der Mitgliedstaaten massiv tangierten, oder ob sie gemeinsam mit den Nationalstaaten eine demokratische und soziale Union wolle.« Um dies zu bewerkstelligen, brauche man den EU-Verfassungsvertrag. Auch wenn nach der Abstimmung im Deutschen Bundestag über den neuen EU-Vertrag der Enthusiasmus etwas verhaltener wirkt: So ist plötzlich davon die Rede, einzelne Passagen des Verfassungsvertrages wären »problematisch« und sollten später »abgeändert werden«.
Abgesehen davon, daß eine Änderung des EU-Verfassungsvertrags nur durch eine erneute Ratifizierung aller Mitgliedstaaten möglich ist und somit ein veränderter Text, der zivile und soziale Verbesserungen enthält, praktisch nicht möglich sein wird, bleibt die Grundrechtecharta als Teil II des Verfassungsvertrags meist weiterhin von aller Kritik ausgenommen. Dies erscheint umso merkwürdiger, als u.a. ein EU-weites, grenzüberschreitendes oder ein Streikrecht mit grenzüberschreitender Wirkung durch die Bestimmungen der Charta in Verbindung mit den Erläuterungen und den Artikeln des Teil III des Verfassungsvertrages praktisch ausgeschlossen wird.
Streikrecht ausgehebelt
Zentral für den Verfassungsvertrag ist, daß auf der einen Seite ein »Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb« festgeschrieben und das Projekt Europäische Union um die vier Grundfreiheiten organisiert wird. »Der freie Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit« sollen von der EU und innerhalb der EU gewährleistet werden. Auf der anderen Seite verweigert man der Arbeiterklasse, grenzüberschreitende Streiks durchzuführen. Kommt es also zu Kampfmaßnahmen kann das Kapital unter Verweis auf den EU-Verfassungsvertrag einfach den Schlagbaum herunterlassen. Dadurch wird Arbeiterinnen und Arbeitern das wesentliche Mittel genommen, um ihre Interessen durchzusetzen. Dem EU-weiten Ausspielen von Standort gegen Standort wird damit Tür und Tor geöffnet.
In Artikel 28 der Charta »Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen« wurde festgehalten: »Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.« Dies scheint auf den ersten Blick zumindest die Möglichkeit für grenzüberschreitende Streiks offenzulassen. Aber über die Erläuterungen (Erklärung Nr. 12) wird dies geradezu in Gegenteil verkehrt. Hier heißt es: »Die Bezugnahme auf die geeigneten Ebenen verweist auf die nach Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Ebenen, was die europäische Ebene einschließen kann, wenn dies die Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene vorsehen.« So weit, so verwirrend.
Der Trick ist, daß mit Artikel III-210 weiterhin jede Regelungskompetenz für das Streikrecht ausgeschlossen wird. Doch damit nicht genug. In den Erläuterungen zum »Recht auf Kollektivhandlungen und Kollektivmaßnahmen« wird weiterhin betont: »Die Modalitäten und Grenzen für die Durchführung von Kollektivmaßnahmen, darunter auch Streiks, werden durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geregelt; dies gilt auch für die Frage, ob diese Maßnahmen in mehreren Mitgliedstaaten parallel durchgeführt werden können.« Damit heißt es schlicht Fehlanzeige, was das Streikrecht auf EU-Ebene angeht.
Grotesker Habermas
Noch dramatischer ist, daß auch für Streiks mit grenzüberschreitender Wirkung, ein entsprechendes Stoppzeichen in die Charta eingebaut wurde. In Artikel II-113, hier geht es um das Schutzniveau der Charta, heißt es lapidar: »Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen.« DieGrundfreiheiten sind aber nichts anderes, als der in Artikel I-4 festgeschriebene freie Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr. Das bedeutet im Klartext, daß somit auch noch die restriktive Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxembourg (EuGH) zum Streikrecht in die Charta und den Verfassungsvertrag eingesenkt wird. Der EuGH hatte u. a. entschieden, daß Streiks französischer Lastwagenfahrer, bei denen es auch zu Straßenblockaden gekommen war, den freien Warenverkehr behinderten. Die französische Regierung wurde durch das Gericht aufgefordert, diese Blockaden abzuräumen.
Angesichts dessen wirkt die Aufforderung zum Ja-Sagen von Biermann über Habermas zu Schwan am 3. Mai in Le Monde geradezu grotesk. Diese hatten die Franzosen aufgefordert dem Verfassungsvertrag zuzustimmen, um »dem Alptraum eines entfesselten ›ultraliberalen‹ Kapitalismus« Einhalt zu gebieten.
* Unser Autor ist Mitglied von EuropeanWatch und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro des MdEP Tobias Pflüger
Beim Auftakt seiner Kapitalismuskritik vor wenigen Wochen wurde der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering mit den Worten zitiert: »Die EU müsse sich entscheiden, ob sie dem Markt unter der Überschrift ›Wettbewerb‹ Schneisen schlagen wolle, die auch die sozialstaatlichen Aufgaben der Mitgliedstaaten massiv tangierten, oder ob sie gemeinsam mit den Nationalstaaten eine demokratische und soziale Union wolle.« Um dies zu bewerkstelligen, brauche man den EU-Verfassungsvertrag. Auch wenn nach der Abstimmung im Deutschen Bundestag über den neuen EU-Vertrag der Enthusiasmus etwas verhaltener wirkt: So ist plötzlich davon die Rede, einzelne Passagen des Verfassungsvertrages wären »problematisch« und sollten später »abgeändert werden«.
Abgesehen davon, daß eine Änderung des EU-Verfassungsvertrags nur durch eine erneute Ratifizierung aller Mitgliedstaaten möglich ist und somit ein veränderter Text, der zivile und soziale Verbesserungen enthält, praktisch nicht möglich sein wird, bleibt die Grundrechtecharta als Teil II des Verfassungsvertrags meist weiterhin von aller Kritik ausgenommen. Dies erscheint umso merkwürdiger, als u.a. ein EU-weites, grenzüberschreitendes oder ein Streikrecht mit grenzüberschreitender Wirkung durch die Bestimmungen der Charta in Verbindung mit den Erläuterungen und den Artikeln des Teil III des Verfassungsvertrages praktisch ausgeschlossen wird.
Streikrecht ausgehebelt
Zentral für den Verfassungsvertrag ist, daß auf der einen Seite ein »Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb« festgeschrieben und das Projekt Europäische Union um die vier Grundfreiheiten organisiert wird. »Der freie Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit« sollen von der EU und innerhalb der EU gewährleistet werden. Auf der anderen Seite verweigert man der Arbeiterklasse, grenzüberschreitende Streiks durchzuführen. Kommt es also zu Kampfmaßnahmen kann das Kapital unter Verweis auf den EU-Verfassungsvertrag einfach den Schlagbaum herunterlassen. Dadurch wird Arbeiterinnen und Arbeitern das wesentliche Mittel genommen, um ihre Interessen durchzusetzen. Dem EU-weiten Ausspielen von Standort gegen Standort wird damit Tür und Tor geöffnet.
In Artikel 28 der Charta »Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen« wurde festgehalten: »Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.« Dies scheint auf den ersten Blick zumindest die Möglichkeit für grenzüberschreitende Streiks offenzulassen. Aber über die Erläuterungen (Erklärung Nr. 12) wird dies geradezu in Gegenteil verkehrt. Hier heißt es: »Die Bezugnahme auf die geeigneten Ebenen verweist auf die nach Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Ebenen, was die europäische Ebene einschließen kann, wenn dies die Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene vorsehen.« So weit, so verwirrend.
Der Trick ist, daß mit Artikel III-210 weiterhin jede Regelungskompetenz für das Streikrecht ausgeschlossen wird. Doch damit nicht genug. In den Erläuterungen zum »Recht auf Kollektivhandlungen und Kollektivmaßnahmen« wird weiterhin betont: »Die Modalitäten und Grenzen für die Durchführung von Kollektivmaßnahmen, darunter auch Streiks, werden durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geregelt; dies gilt auch für die Frage, ob diese Maßnahmen in mehreren Mitgliedstaaten parallel durchgeführt werden können.« Damit heißt es schlicht Fehlanzeige, was das Streikrecht auf EU-Ebene angeht.
Grotesker Habermas
Noch dramatischer ist, daß auch für Streiks mit grenzüberschreitender Wirkung, ein entsprechendes Stoppzeichen in die Charta eingebaut wurde. In Artikel II-113, hier geht es um das Schutzniveau der Charta, heißt es lapidar: »Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen.« DieGrundfreiheiten sind aber nichts anderes, als der in Artikel I-4 festgeschriebene freie Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr. Das bedeutet im Klartext, daß somit auch noch die restriktive Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxembourg (EuGH) zum Streikrecht in die Charta und den Verfassungsvertrag eingesenkt wird. Der EuGH hatte u. a. entschieden, daß Streiks französischer Lastwagenfahrer, bei denen es auch zu Straßenblockaden gekommen war, den freien Warenverkehr behinderten. Die französische Regierung wurde durch das Gericht aufgefordert, diese Blockaden abzuräumen.
Angesichts dessen wirkt die Aufforderung zum Ja-Sagen von Biermann über Habermas zu Schwan am 3. Mai in Le Monde geradezu grotesk. Diese hatten die Franzosen aufgefordert dem Verfassungsvertrag zuzustimmen, um »dem Alptraum eines entfesselten ›ultraliberalen‹ Kapitalismus« Einhalt zu gebieten.
* Unser Autor ist Mitglied von EuropeanWatch und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro des MdEP Tobias Pflüger
Tobias Pflüger - 2005/05/23 18:20
Trackback URL:
https://tobiaspflueger.twoday.net/stories/712900/modTrackback