Sandkörner im Getriebe - Mit dem heute in Erfurt beginnenden bundesweiten Sozialforum findet Deutschland Anschluß an eine internationale Bewegung

Pressebericht in: junge Welt - 21.07.2005 - Wolfgang Pomrehn

Nun endlich, nach viereinhalb Jahren, hat auch Deutschland sein erstes bundesweites Sozialforum. Am heutigen Donnerstag öffnet es im thüringischen Erfurt seine Pforten. Sprechen werden zum Auftakt unter anderem Moema Miranda vom Organisationskomitee des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre und Sotiris Kontogianmis, der in Athen derzeit das nächste europäische Sozialforum mit vorbereitet.

Millionen Anhänger

Die Idee ist jung, aber hat weltweit bereits Millionen Anhänger gefunden: Die Sozialforen bieten auf allen Ebenen Gewerkschaften und Nachbarschaftsinitiativen, Frauenorganisationen und Bauernverbänden, Jugend- und Friedensgruppen – mit einem Wort: den diversen sozialen Bewegungen – einen offenen Raum, in dem man sich trifft, sich informiert, Kontakte knüpft und vielleicht auch gemeinsame Kampagnen entwickelt. Alles auf den ersten Blick sehr unverbindlich, manchmal auch beliebig und zufällig, aber unterm Strich äußerst effektiv: Internationale Netzwerke von Umweltschützern, Kleinbauern, Frauengruppen und Freihandelsgegnern sind aus den Foren hervorgegangen oder wurden von ihnen gestärkt und erweitert. In den Debatten und nicht zuletzt in den Versammlungen der sozialen Bewegungen, die jeweils am Rande der Foren für all jene abgehalten werden, die es nach gemeinsamem Handeln drängt, kommen sich die unterschiedlichsten Bewegungen Schritt für Schritt näher. Insbesondere globale Aktionstage wie der 15. Februar 2003, als 15 Millionen Menschen in aller Welt gegen den seinerzeit drohenden US-Angriff auf den Irak auf die Straße gingen, sind ohne die Sozialforen undenkbar. Keine einzelne Organisation, keines der internationalen Netzwerke hätte alleine die Kraft, so viele Menschen für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren.

Kaum jemand hätte zuvor zu hoffen gewagt, daß die Idee der Sozialforen so schnell derartige Kreise ziehen würde. Entstanden war sie im Frühjahr 2000 auf Alternativkonferenzen anläßlich der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung in Bangkok sowie der Frühjahrstagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in Washington. Monate zuvor hatten massive Straßenproteste im US-amerikanischen Seattle gegen die Welthandelsorganisation WTO die Welt aufhorchen lassen. Scheinbar aus dem Nichts kommend, hatte eine bunte, vor allem von jungen Menschen und Gewerkschaftern getragene Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung die Weltbühne betreten. Dieser neuen Bewegung, die sich bereits bei weniger aufsehenerregenden Mobilisierungen wie den Demonstrationen gegen die EU-Gipfel 1997 in Amsterdam und 1999 in Köln oder den G-7-Gipfel 1998 in Birmingham gezeigt hatte, sollte ein Forum verschafft werden, ein Weltsozialforum. Ein Bündnis, das von der brasilianischen Bewegung der Landlosen MST, über ATTAC Frankreich, das US-amerikanische Netzwerk gegen Weltbank und IWF »50 years are enough« bis zu den Globalisierungskritikern vom Bangkoker Institut »Focus on the Global South« reichte, tat sich zusammen, um den Gedanken umzusetzen. Verkündet wurde er im Juni 2000 auf einer anderen Alternativkonferenz am Rande des UN-Weltsozialgipfels in Genf. Miguel Rossetto, seinerzeit für die brasilianische Arbeiterpartei PT Vizegouverneur des Bundesstaates Rio Grande do Sul, lud in einer mitreißenden Rede, die die Übersetzer hoffnungslos überforderte, die versammelten 500 Aktivisten sozialer Bewegungen aus fünf Dutzend Ländern nach Porto Alegre in den Süden Brasiliens ein. Dort fand sieben Monate später, Ende Januar 2001, das erste Weltsozialforum statt, Von 2000 bis 2500 Teilnehmern war Rossetto in Genf noch ausgegangen, 10000 sollten es werden, die eine knappe Woche lang auf der Plattform der gemeinsamen Ablehnung der neoliberalen Globalisierung und der imperialistischen Kriege diskutierten. Eine Zahl, die seinerzeit für eine derartige Konferenz gigantisch anmutete.

Lauffeuer aus Porto Alegre

Vier Jahre später erscheint sie eher klein. Im Januar 2005 zum inzwischen fünften Weltsozialforum kamen über 150000 Menschen nach Porto Alegre. Wie ein Lauffeuer haben sich in den zurückliegenden Jahren die Sozialforen ausgebreitet. Europa bereitet sich bereits auf sein viertes kontinentales Forum im nächsten Frühjahr in Athen vor. Asien, Lateinamerika und Afrika haben ihre kontinentalen Foren. Viele Länder halten nationale Sozialforen ab, oder regionale wie in den USA. Und überall berichten die Beteiligten von neuem Schwung in den sozialen Kämpfen, von einer verbesserten Zusammenarbeit der sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften, auf nationaler wie auf internationaler Ebene.

Damit ist die Offensive der neoliberalen Kräfte, die in aller Welt den freien Warenverkehr und den kapitalistischen Profit zu den höchsten aller menschlichen Ziele erklären, weder gestoppt, noch nennenswert verlangsamt. Doch hier und da werden Sandkörner ins Getriebe geworfen, und in der gegenwärtigen politischen Krise der Europäischen Union, zu der sich zumindest in den Niederlanden, Deutschland und in Italien auch eine Rezession zu gesellen scheint, könnte die Dynamik des Sozialforumsprozesses weiter zunehmen.

* Weitere Informationen: www.sozialforum2005.de

Aus dem Programm

Donnerstag

18 bis 22 Uhr, Eröffnungsveranstaltung auf dem Domplatz: mit Sombrasil aus Chile, Quijote aus Chemnitz, Mitgliedern der Berliner Philharmoniker und anderen

Freitag

9 bis 11 Uhr, Themenkonferenz: »Menschenrechte und politische Teilhabe«. Lutz Brangsch (Rosa-Luxemburg-Stiftung), Frank John (kein Mensch ist illegal), Gislea Notz (Sozialwissenschaftlerin)

9 bis 21 Uhr, Internationales Hearing über Krieg und Besatzung im Irak.

9 bis 11 Uhr, Seminar: »Bundeswehr der Zukunft: Mit aggressiven Konzepten und hochmodernen Waffen in den weltweiten Einsatz«

9 bis 11 Uhr, Seminar: »Biedaszyby (Armenschächte)«,: Wie polnische Bergleute in einem selbstverwalteten Projekt Kohle fördern

11. 30 bis 13 Uhr, Seminar: »Mindesteinkommen und Mindestlohn – europaweit«

11.30 bis 13.30 Uhr, Themenkonferenz: »Anders besser Leben«. Manfred Linz (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie), Veronika Bennholdt-Thomsen (Institut für Theorie und Praxis der Subsistenz), Barbara Stützel (Global Ecovillage Network)

14.30 bis 16.30 Uhr, Seminar: »Begegnung mit Buchenwald«

14.30 bis 16.30 Uhr, Themenkonferenz: »EU-Europa: In welcher Verfassung sollte es sein?« Elisabeth Gauthier (Frankreich), Miklós Gáspár Támas (Ungarn), Tobias Pflüger (Deutschland, MdEP)

15 bis 18 Uhr, Seminar: »Wohin steuert die Bildung«

17 bis 19 Uhr, Seminar: »Globalisierte Dienstmädchen«

Samstag

9 bis 11 Uhr, Themenkonferenz: Globalisierung und die Rolle Deutschlands in der Welt«. Moema Miranda (Brasilien), Peter Wahl (ATTAC), Claudia Haydt (Informationsstelle Militarisierung), Ernesto Kroch (Uruguay), Werner Sauerborn (AK Gewerkschaften und Globalisierung)

9 bis 11 Uhr, Seminar: »Hartz IV« im Frauenhaus«

9 bis 11 Uhr, Seminar: »Die Zukunft des Wassers in der BRD«

11.30 bis 13.30 Uhr, Themenkonferenz: »Arbeitswelt und Menschenwürde«. Frank Bsirske (ver.di), Ursula Schumm-Garling (Universität Dortmund), Ronald Lutz (Fachhochschule Erfurt), Daniela Dahn (Schriftstellerin)

11.30 bis 13.30 Uhr, Seminar: »Das Non zur EU-Verfassung – Für ein soziales Europa«

17 bis 19 Uhr, IGS 7, Seminar: »Wo stehen die sozialen Bewegungen in Europa?«

Sonntag

9 bis 11 Uhr, Themenkonferenz: »Wie weiter mit den sozialen Bewegungen?« Peter Sodann (Schauspieler, angefragt), Horst Schmitthenner (IG Metall), Peter Grottian (Initiative Sozialforum Berlin), Elfriede Begerich (Pröbstin in Erfurt)

11.30 bis 13.30 Uhr, Domplatz: »Versammlung der sozialen Bewegungen«

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