Mechanismen alltäglicher Korruption im Parlament und die LPDS

Interview in: SoZ Heft, Nr.10, Juni 2006, S.9–12

Interview mit Tobias Pflüger

Welche Rolle spielt für dich das Parlament im Rahmen linker Politik? Mit welchem Selbstverständnis arbeitest du als Parlamentsabgeordneter?

Dies ist eine von vielen Möglichkeiten, politisch zu agieren. Und das alte, einstmals aus den Reihen der Grünen formulierte Verständnis vom Stand- und vom Spielbein trifft mein Verständnis sehr gut. Das heißt, dass für mich als jemanden, der sich den sozialen Bewegungen zurechnet, der zentrale Aktionsort gerade diese sozialen Bewegungen sind. Abgeordnete haben die Möglichkeit, dort, wo bestimmte Entscheidungen getroffen werden, oder besser wo geglaubt wird, dass Entscheidungen getroffen würden, Positionen aus dem Bereich der sozialen Bewegungen artikulieren zu können.

Ein Beispiel: Wir hatten vor ein paar Tagen den österreichischen Militärminister Günther Plattner im Auswärtigen Ausschuss und der amtierende Ausschussvorsitzende versuchte mit allen möglichen Tricks, zu erreichen, dass der Pflüger nicht redet. Ganz am Ende, nach mehreren Stunden, nach allen anderen und nachdem er die externen Gäste aus einzelstaatlichen Parlamenten aufgefordert hatte, sich doch bitte zu melden oder noch mal zu melden, musste er mir das Wort erteilen. Da konnte ich mich dann auf Positionen für eine Neutralität Österreichs positiv beziehen, die dort im Parlament einfach niemand mehr vertritt, die nur noch außerparlamentarisch vertreten werden. Plattner hat enorme Probleme bekommen, zu erklären, wie das Berlin-Plus-Abkommen zwischen NATO und EU und die Teilnahme Österreichs an den EU-Battle Groups zusammenpassen soll mit der immerwährenden Neutralität in der österreichischen Verfassung.

Ich verstehe mich im Übrigen nicht als Vertreter sozialer Bewegungen, das geht gar nicht, sondern als jemand, der aus den sozialen Bewegungen kommt, und sich auf sie bezieht, das ist ein Unterschied.

Also ein Verständnis von Parlamentsarbeit, das den Abgeordnetenstatus nicht als Beruf versteht, sondern als vorübergehenden Ort einer an sich anderen Tätigkeit?

Ja, das ist eine zeitlich begrenzte, vorübergehende Tätigkeit, die dann irgendwann auch beendet werden muss, weil sonst eine Reihe von Mechanismen wirken, wie z.B. die Abhängigkeit von so einem Job. Wenn man das zu lange macht, ist ganz klar, dass es sehr schwer wird, die totale Fixierung auf Parlamentsabläufe zu verhindern und den Blick auf die politischen Gesamtsituation im Blick zu behalten. Dass bei Mandatsträgerinnen und Mitarbeitern ein Tunnelblick auf Parlamente, Parteien und Posten entsteht, ist sehr, sehr wahrscheinlich, aber nicht automatisch. Da kann man sich bestimmte Mechanismen überlegen und danach handeln.

Inwiefern ist deine Position eine unbewusst-pragmatische oder eine zuvor bewusst theoretisch erarbeitete?

Das ist eine sehr bewusste politisch Position. Menschen, die meinen, ins Parlament gehen zu müssen, müssen sich vorher genau überlegen, wie sie nachher agieren möchten. Wenn sie sich das nicht genau überlegen, verlieren sie sich schnell in dem Betrieb. Ich habe mir vor Beginn des Mandats einige Prämissen überlegt, bzgl. politischem Verhalten und mit welchen politischen "Werkzeugen" und Grundsätzen ich an die Parlamentsarbeit und Arbeit als Abgeordneter herangehe.

Die zentralen Punkte sind: Erstens: Zentral ist es, keine Staatspolitik zu machen. Das heißt, meine Akteursebene ist nicht die der Staaten, sondern die sozialer Bewegungen. Das heißt, beim Entwickeln von politischen Forderungen und Positionen ist zu überlegen, welche Forderungen, welche Positionen könnten Menschen aus sozialen Bewegungen haben. Ich mache keine Politik auf der Ebene des Staates, sondern auf der Ebene der sozialen Bewegungen. Bündnispartner in anderen Ländern oder bei Konflikten sind deshalb auch nie Staaten sondern soziale Bewegungen und Menschen aus sozialen Bewegungen dort. Das ist wichtig, weil häufig die falschen politischen Schlussfolgerungen daraus resultieren, dass man auf der falschen Akteursebene ansetzt. Nehmen wir das Beispiel von militärischen Interventionen, wo so manche die staatliche Akteursebene übernehmen und diskutieren, "man" müsse doch militärisch intervenieren, doch militärisch intervenieren würden staatliche Akteure. Die Handlungsebene von uns ist eine andere.

Zweiter zentraler Ansatzpunkt ist, dass der Hauptakteur, mit dem man sich auseinandersetzen muss, grundsätzlich die "eigene", die deutsche Regierung ist. Das heißt, in jeden Konflikt ist die zentrale Frage: Was tut die deutsche Regierung? So war es von zentraler Bedeutung die Doppelstrategie der deutschen Regierung beim Irakkrieg herauszuarbeiten, einerseits gegen den Krieg zu reden und andererseits alles dafür zu tun, damit er funktionierte und noch heute die Besatzung "funktioniert".

Ein dritter wichtiger Punkt ist, dass ich für mich sage, dass ich grundsätzlich Oppositionspolitik mache, z.B. gegen die Militarisierung der Gesellschaft, gegen Sozialabbau, gegen Ausbeutung usw. Wer in der derzeitigen politischen Konstellation meint, dieses kapitalistische System in seiner momentanen Form sei durch eine Regierung oder gar Regierungsbeteiligung zu bändigen, betreibt illusionäre Realpolitik und wird zum Mitverwalter neoliberaler und auf Bundesebene Kriegs-Politik.

Meiner Meinung nach ist nur noch Opposition möglich und zwar Opposition, die das bestehende (kapitalistische) System auch in Frage stellt. Wie sagte mal Kurt Tucholsky über die SPD: "Sie meinten sie wären an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung." Manche glauben ja, dass es zu früheren Zeitpunkten möglich gewesen sei, über Regierungen Politik zu verändern, spätestens heute in der derzeitigen Phase der kapitalistischen Globalisierung hat sich das erledigt, also bleibt nur Opposition und zwar eine, die das ganze Klavier – aller politischen Möglichkeiten – nutzt. Ziel muss es sein die gesellschaftliche Grundstimmung zu verändern. Zentrale politische Veränderungen sind nicht durch Regierungen oder Parlamente, sondern durch Veränderungen von Grundstimmungen innerhalb von Gesellschaften erreicht worden. Im Übrigen ist es inzwischen so, dass eine Beteiligung an einer Bundesregierung bedeutet, ja zur jetzigen Bundeswehr, zur jetzigen EU-Militärpolitik und zur jetzigen NATO zu sagen, und damit also ja zu Kriegspolitik zu sagen.
Konkret: gestern Abend war ich z.B. auf einer Veranstaltung zum drohenden Irankrieg. Der zentrale Ansatzpunkt für die hiesigen sozialen Bewegungen muss doch sein, sich erstens mit der Rolle der deutschen Regierung im Irankonflikt auseinanderzusetzen und aufzuzeigen, wie die deutsche Regierung innerhalb der EU 3 und allein (Merkel auf der "Sicherheitskonferenz") miteskaliert. Zweitens sind Partner nicht irgendwelche Regierungen, sondern soziale Bewegungen, in diesem Falle im Iran.
Dies ist ein ganz zentrales Grundverständnis. Wenn im Parlament, manchmal recht kurzfristig, eine neue Fragestellung kommt, dann muss ich mit einem gewissen Grundmuster an die Antwortsuche herangehen. Und dann hilft es, zu wissen, dass ich keine Staatspolitik mache, sondern Politik auf der Ebene und im Sinne der sozialen Bewegungen. Es geht nicht um Stellvertreterpolitik, vielmehr darum, einer unter vielen Akteuren der sozialen Bewegungen zu sein. Ich habe damals für bestimmte Inhalte kandidiert und bin wohl deshalb auch gewählt worden: Gegen die Militarisierung der Europäischen Union und gegen den EU-Verfassungsvertrag, das waren die beiden Punkte, die ich damals speziell benannt habe. Und alle wussten, dass diese Punkte dann politisch bearbeitet würden. Wichtig ist auch: nicht organisationsloyal sondern inhaltsloyal zu sein. Das heißt, die Organisationen können sich ändern, nicht aber die Inhalte.

Inwiefern schlägt sich diese Haltungsfrage im parlamentarischen Alltag nieder? Inwiefern unterscheidet sich eine solche Haltung zu jener, die ihre Parlamentsarbeit als Beruf, als Stellvertreterpolitik verstehen?

Es ist ein anderes Agieren in den parlamentarischen Strukturen. Für mich ist es viel wichtiger, was in den sozialen Bewegungen diskutiert wird als im Parlamentsalltag. Die Parlamentsdebatten sind doch häufig sehr realitätsfern und manchmal auch menschenverachtend.

Das Parlament ist aber doch in erster Linie ein Ort der Beschlussfassung von Gesetzen. Mit einer solchen Haltung kann man dieser Aufgabe kaum gerecht werden.

Im europäischen Parlament ist dies ja noch etwas anders, weil das europäische Parlament ja nur in Teilbereichen eine Gesetzesinstanz ist. Gerade dort, wo ich agiere, also vor allem in der Außen- und Militärpolitik, ist es gerade keine Gesetzesinstanz. Da hat das EU-Parlament keine Entscheidungsgewalt. Immanent gesehen, wäre es sicherlich besser, wenn das Parlament auch hier etwas zu sagen hätte.

Inwiefern ist die von dir beschriebene Haltung zum Parlamentsbetrieb eine individuell erarbeitete und inwiefern ist dies ein in der linken Fraktion gemeinsam erarbeitete Haltung? Gibt es dort über diese Form von Selbstverständnis eine kollektive Diskussion?

Nein, die gibt es nicht.

Auch keinen Versuch zu einer solchen Diskussion? Man müsste von einer linken Fraktion doch annehmen, dass sie sich über ihr Arbeitsselbstverständnis kollektiv verständigt.

Das setzt voraus, dass die Einzelnen sich über ihr politisches Selbstverständnis unterhalten wollen. Es ist ein großes Problem, dass ich es mit "Genossen" zu tun habe, die ein ganz anderes Selbstverständnis haben und die auch kein Interesse haben, sich über politische Ansätze auszutauschen und zu verständigen.

Im Europäischen Parlament bezeichnet die linke Fraktion die Zusammenfassung der gesamten europäischen Linken. Die deutsche Gruppe der PDSler ist Teil dieser Fraktion. Findet diese Nicht-Diskussion nun in der gesamten Fraktion statt oder nur in der deutschen Delegation?

Was die insgesamt sieben deutschen Abgeordneten der damaligen PDS-Liste angeht, so ist überhaupt kein Interesse und keine Bereitschaft vorhanden, verschiedene Ansätze überhaupt wahrzunehmen oder zu diskutieren, im Gegenteil, es wird vieles, was fremd ist. einfach verhindert oder sabotiert. Und was die Gesamtfraktion angeht, so besteht die gesamte linke EU-Fraktion aus 17 Wahllisten aus 14 Ländern mit insgesamt 41 Abgeordneten. Da gibt es sehr unterschiedliche Politikverständnisse, aber darüber wird nicht geredet.
Wichtiger ist in diesem Zusammenhang auch der große Stab an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktion. Eigentlich machen die im EU-Parlament zusammen mit den Menschen in den Sekretariaten der Ausschüsse und Delegationen und den persönlichen Mitarbeitern der Abgeordneten die eigentliche Politik, die EU-Abgeordneten sind die Planeten, die unterwegs sind. Das hat mit der Struktur der Parlamentsarbeit zu tun, damit, dass die Abgeordneten immer nur "eingeflogen" kommen, während die Mitarbeiter diejenigen sind, die die ständige Grundarbeit machen.

Kann man denn dann überhaupt noch von einer kollektiven Identität der linken Fraktion sprechen?

Bei zentralen Fragen ja. Es gibt ein paar Punkte, wo sich die Fraktion (fast vollständig oder ganz) einig ist. Der Fraktionsvorsitzende Francis Wurtz hat einmal zentrale Punkte benannt: Gegen neoliberale Politik, wie sie deutlich wird mit der Dienstleistungsrichtlinie, gegen den EU-Verfassungsvertrag, gegen Krieg als Mittel der Politik und für Menschen in Not. In diesen Kernfragen sind die politischen Positionen innerhalb der Fraktion sehr ähnlich. In Detailfragen ist es dann gelegentlich sehr verschieden. Auch innerhalb der verschiedenen einzelstaatlichen Delegationen gibt es zum Teil massive Unterschiede, so auch in der deutschen LPDS-Delegation.

Das musst du erklären. Liegt der politische Gegensatz hier im Gegensatz von östlicher und westlicher Politiktradition oder ist er stärker inhaltlich bestimmt?

Hier verweben sich Fragen der Herkunft mit denen des politischen Selbstverständnisses. Im Falle einiger Ostparlamentarier ist es recht deutlich, dass sie als Berufspolitiker anerkannt sein möchten und auf diesem Wege sich auch in besonderer Weise mit der Institution identifizieren, deren "Teil" sie sind.

Ist dies jetzt eine Form des politischen Strömungskampfs, der zu solcherart Blockaden führt oder eine Frage der Verselbständigung von Institutionen?

Sowohl als auch. Entscheidend ist, dass wir es mit einem völlig anderen Politikansatz zu tun haben. Ich habe vor der Wahl klare inhaltliche Aussagen gemacht: Dafür stehe ich, für diese und diese Positionen will ich gewählt werden, das und das will ich politisch bearbeiten. Die meisten anderen gehen da mit einem anderen Verständnis heran. Ich selbst habe hier ein recht "protestantisches" Selbstverständnis: Wenn ich für was gewählt wurde, muss ich das auch umsetzen und mich an meinen Aussagen messen lassen.

Die gleichsam institutionelle Umsetzung einer solchen Ethik war einstmals das imperative Mandat, die Kontrolle des Parlamentsabgeordneten von jenseits des Parlaments.

Von der Idee her halte ich dies auch für richtig. Die Praxis setzt jedoch voraus, dass andere die Abläufe in einem solchen Parlament auch kennen, die Probleme sachlich einschätzen können, um dann in einer korrigierenden Richtung auch tätig sein zu können. Das ist jedoch ausgesprochen schwierig und daran scheinen die Versuche anfangs der 80er Jahre ja auch gescheitert zu sein. Das imperative Mandat setzt eben Menschen voraus, die den parlamentarischen Betrieb so gut kennen müssen wie die, die zu kontrollieren sind. Deswegen ist vor allem größtmögliche Transparenz und Information wichtig.

Das war ja auch die Idee einer Abgeordnetenrotation. Man zieht sich so eine Gruppe von Nichtmehr-Parlamentariern heran, die den Betrieb kennen und die Arbeit der anderen kontrollieren können.
Auch dies ist von der Grundidee gut, in der Praxis jedoch nicht. Das hat sicherlich auch mit den Mechanismen der Mediendemokratie zu tun, dass bestimmte Leute eher und besser wahrgenommen werden. Die Kardinalfrage bleibt jedoch, mit welchem Grundverständnis die Parlamentarier an ihre eigene Arbeit herangehen. Wenn ein solches Grundverständnis bei ihnen gar nicht vorhanden ist, kann man sie solange kontrollieren wollen, wie man möchte oder lustig ist – es wird nicht funktionieren. Man muss bereit sein, sich auch grundsätzlich etwas sagen zu lassen. Das scheint eine wichtige Voraussetzung zu sein. Ich habe eine Handvoll von Menschen, denen ich, wenn sie sagen: "Mach das doch so oder so", auch sehr genau zuhöre. Beratungsresistenz zu verhindern ist zentral.

Ein anderes traditionelles Mittel dieser "Einbettung des Parlamentariers", einstmals vielleicht das wichtigste, war immer die Partei, die Organisation, für die man im Parlament sitzt. Dies sollte der Ort sein, wo die parlamentarischen Funktionäre an die Meinungsbildung ihrer Klientel gebunden werden, wo sie sich etwas sagen lassen. Welche Rolle spielt heute die Parteistruktur im Verhältnis zur Politik der Fraktion?

Es ist den jeweiligen Abgeordneten relativ egal, was in der Partei diskutiert wird. Es ist ihnen aber nicht egal, was in irgendwelchen Vorstandsgremien diskutiert wird. Die Erfahrung in Fragen von Krieg und Frieden ist z.B. bei der PDS eindeutig: Hier wird auf Vorstandsebene völlig anders diskutiert als an der Parteibasis. An der Basis hat eine solche Position, wie ich sie bekanntermaßen vertrete, also die Position, die grundsätzlich sagt, dass Krieg niemals Mittel der Politik ist, bzw. sein darf, dass es von links keine Unterstützung für Militäreinsätze geben darf, enormen Rückhalt. Auf der Vorstandsebene kommt man dagegen zu solch skurrilen Positionen wie jener des neuen "Eckpunktepapiers", man müsse sich überlegen, unter welchen Bedingungen der Einsatz militärischer Kräfte unterstützenswert sei. Das ist eine Position, die in weiten Kreisen der Basis schlicht nicht geteilt wird.
Grundsätzlich ist zum Verhältnis von Partei und Parlamentsfraktionen bei der LPDS zu sagen, dass bei einigen in der PDS ihre SED-Vergangenheit negativ mitgeschleppt wird. Die Position, ihre Abgeordneten auf eine bestimmte Parteiposition zu verpflichten, ist, aus negativer Abgrenzung an die DDR-SED-Vergangenheit, völlig verpönt. Die Oberhand haben hier immer diejenigen, die sich auf den Status des freien Abgeordneten berufen. Die Partei, sagen sie, habe ihnen dies nicht vorzuschreiben. So argumentieren Sylvia-Yvonne Kaufmann und André Brie immer, wenn sie mal wieder gegen die LPDS-Programmatik verstoßen. Die LPDS trägt dieses Selbstverständnis in ihren Strukturen fort. Und dies wiederum wird von jenen benutzt, die sich an den herrschenden Betrieb anpassen möchten, die, wie es so schön heißt, "ankommen" möchten. Inhaltliche Einflussnahme von außen, durch die Partei, findet so nur wenig statt.

Das ist nun eine recht weitgehende Einschätzung über die Unfähigkeit, solche Verselbständigungstendenzen in den Griff zu bekommen. Siehst du denn an der Parteibasis, für die auch du im Parlament sitzt, entsprechende Tendenzen, entsprechende Bedürfnisse, entsprechende Diskussionen, wie man das Problem anders als bisher in den Griff bekommen kann? Wie muss sich eine Partei ändern, um besser dafür gewappnet zu sein?

Zur ersten Frage, ob es eine solche Diskussion gibt: Ich weiß es nicht. Und zur zweiten Frage, wie sich eine linke Partei ändern müsste. Sie müsste auch in ihren Strukturen tatsächlich links werden, d.h., sie müsste mit ihren Strukturen die demokratische Teilhabe der Mitglieder am Gesamtbildungsprozess von Positionen ermöglichen. Bei der gegenwärtigen LPDS habe ich allerdings keinen solchen Eindruck. Wir haben es hierbei mit einer sehr klar hierarchisch strukturierten Partei zu tun, bei der offene Meinungsbildungsprozesse an der Basis nicht relevant sind. So gibt es immer wieder zentrale Papiere von oben, die nach unten durchdiskutiert werden – das war’s.

Alles müsste ganz anders strukturiert werden, von der Art, wie Parteisitzungen und -versammlungen abgehalten werden bis hin zum Umgang mit Funktionären und Abgeordneten. Abgeordnete sind ja keine besseren Menschen, werden aber immer wie rohe goldene Eier behandelt. Die Versammlungen müssten weniger auf Dauerredner wie Gregor Gysi oder Oskar Lafontaine zugeschnitten sein, müssten offener sein, auch für kleinere Arbeitsgruppenstrukturen beispielsweise. Die ganze Grundstruktur ist derzeit nicht emanzipatorisch, sondern autoritär.

Man hat aber nicht den Eindruck, dass dies als Bedürfnis in nennenswerten Teilen der Partei artikuliert wird.

Das sehe ich auch so. Daher bin ich ja auch eher skeptisch.

Du hast jetzt stark von der Warte des EU-Parlaments aus gesprochen. Hast du einen Einblick in die Arbeit der neuen Bundestagsfraktion, in der ja auch andere Traditionen stärker vertreten sind, die ja weniger PDS-dominiert sind?

Im Bundestag habe ich ein Verbindungsbüro mit einer Mitarbeiterin, bin immer wieder zu Gast bei AGs und AKs der Fraktion und habe auch Fraktionssitzungen besucht, bei denen ich im Übrigen sehr freundlich aufgenommen worden und mit vielen gemeinsamen Initiativen wieder gegangen bin. Die Bundestagsfraktion scheint mir ein spannenderer Prozess zu sein. Hier gibt es Vertreter unterschiedlichster politischer Strömungen, sowohl aus der LPDS wie auch der WASG, die ja jeweils auch in sich völlig verschieden sind.

Aber es gibt in der Bundestagsfraktion auch eine stärkere Präsenz aus den sozialen Bewegungen und viele gute Bezüge zu sozialen Bewegungen. Letzteres scheint mir oft noch unterschätzt zu werden. So werde auch ich meinen Sonderstatus langsam los. Eine Monika Knoche oder ein Norman Paech sitzen ja auch in relevanten Positionen, an denen man nicht so einfach vorbeigehen kann. Ein Problem von vielen dieser, die nicht parteiförmig organisiert sind, ist, dass sie sich bisher in die innerparteilichen Debatten nicht oder wenig einmischen, weder strukturell noch inhaltlich. Ich habe mich entschieden, dies zu tun, ohne Mitglied einer der Parteien werden zu wollen, weil ich nun eben mindestens fünf Jahre Teil dieses Prozesses bin.

In der Bundestagsfraktion sind diese Prozesse zwar nicht so offen, wie ich sie gerne hätte, aber doch deutlich offener als im EU-Parlament. Es finden dort Debatten statt, die ich mir hier im Europäischen Parlament gar nicht vorstellen kann. Ob jedoch eine echte, strukturelle Öffnung wirklich gewollt ist, weiß ich nicht. Manche wollen nur eine funktionierende linke Fraktion, die alle möglichen Bereiche thematisch kompetent abdeckt, aber mit Abgeordneten, die nicht allzu renitent sind, die "funktionieren".

Ist dies auch der Hintergrund der Tatsache, dass du einer der Initiatoren des Aufrufs "Für eine antikapitalistische Linke" bist? Ist dies der Versuch einer Bewusstseinsreform oder auch der einer strömungsmäßigen Vernetzung jenes Unmutes, den du beschrieben hast?

Die Initiative für diese Antikapitalistische Linke entstand aus den inhaltlichen Notwendigkeiten der aktuellen politischen Situation und des neuen Parteiformierungsprozess. Die Initiative für eine antikapitalistische Linke ist bewusst breit angelegt, bezieht sich nicht nur auf eine Partei. Zentraler Ansatz ist, dass es sich bei der Formierung einer parteiförmigen Linken nicht nur um zwei Akteure handelt, nicht nur um LPDS und WASG, sondern dass es auch den dritten Akteur gibt, die Menschen aus den sozialen Bewegungen.

Es geht uns ganz zentral darum, dass eine linke Partei eine antikapitalistische Partei sein muss, wenn sie in den real existierenden gesellschaftlichen Kämpfen als Linke agieren will. Wir haben ja in dem Papier bestimmte Mindestpositionen formuliert, die erfüllt sein müssen. Strategisch geht es um den wahrnehmbaren Versuch einer Artikulation eines linken pluralistischen Ansatzes. Das scheint mir gelungen. Und wir haben es bewusst so angelegt, dass wir damit auch Menschen jenseits der beiden Parteien ansprechen und aktivieren wollen. Wie gesagt, mir scheint dies gelungen zu sein, denn über die inhaltlichen Positionen und unseren Grundansatz wird viel diskutiert und viele Menschen nennen – natürlich auch aus anderen Gründen – den Kapitalismus wieder beim Namen und wehren sich gegen dessen konkreten Alltag.

Inwiefern siehst du in dem Vereinigungsprozess auch eine wirkliche Chance, eine solche neue Idee von Organisation ins Spiel zu bringen? Oder haben wir es hier – vor dem Hintergrund des von dir geschilderten – mit Zweckoptimismus zu tun?

Eine gute Frage. Man muss die Kämpfe unabhängig von der Frage führen, ob man sie gewinnen kann oder wird oder nicht. (Lacht.)

Welche Rolle kann, welche Rolle soll in einer solchen antikapitalistischen Perspektive die Arbeit im Parlament spielen? Wie bilanzierst du deine bisherige Erfahrung?

Wenn Menschen im Parlament sitzen – dies ist gleichsam meine vierte Prämisse neben der Nichtstaatspolitik, dem Oppositionsverständnis und dem Hauptgegner deutsche Regierung –, müssen sie ihre Mandate grundsätzlich politisch (be-)nutzen. Linke Mandatsträger haben eine Aufgabe, nicht nur im Sinne gesetzgeberischer Tätigkeit oder dem Abhalten von Parlamentsreden. Abgeordnete könnten und sollten mit dem herausgehobenen Status auch arbeiten und es auch für andere einsetzen. Man kann als Abgeordneter Besuche in Knästen machen, man kann im Hintergrund, mit Briefen und Interventionen viel erreichen, man kann sich in schwierigen Auseinandersetzungen zeigen, auf Demonstrationen gehen, Demonstrierende schützen und Polizei "kontrollieren" usw. usf. Das würde ich mir von noch mehr meiner Kolleginnen und Kollegen wünschen. Die Präsenz von Abgeordneten in sozialen Bewegungen müsste und kann sehr viel stärker sein.

Ist dies eine befriedigende Form für einen Parlamentsabgeordneten oder eher der letzte Versuch, das Beste aus einer insgesamt unbefriedigenden Situation zu ziehen, eine Institution auszunutzen, die man so vielleicht nicht gerade für das letzte Wort der Menschheit hält?

Im Verhältnis zu irgendwelchen Feudalsystemen sind Parlamente sicherlich historische Errungenschaften – eine kleine Stufe auf einer langen, langen Leiter. Aber ganz so gelassen nimmt man das in der Tat nicht immer hin. Umso wichtiger ist der enge Kontakt zu den sozialen Bewegungen und zu jenem Milieu, als dessen Teil man sich versteht. Entsprechend ist es auch wirklich wie auftanken, auch wenn dies zusätzlicher Zeitstress bedeutet, wenn ich auf Veranstaltungen und Demonstrationen aktiv sein kann. Für die zum Teil ätzenden Auseinandersetzungen in der LPDS-Delegation, in der Linksfraktion, und vor allem in den Ausschüssen und im Plenum sind die Teilnahme an Demonstrationen und Veranstaltungen wie Tankstellen für die parlamentarischen Durststrecken. Oder es ist ein Besuch im politischen Zuhause, um es da "draußen" im Parlament auszuhalten.

Das Interview führte Christoph Jünke.

Trackback URL:
https://tobiaspflueger.twoday.net/stories/2316989/modTrackback

logo
tobias pflueger DieLinke_RGB


Startseite
Über mich
Kontakt

Suche

 

RSS-Feed: Informationsstelle Militarisierung

Aufrüstung unter dem Stern desSchengen-Beitritts
————————————–...
IMI - 2024/05/02 16:01
Aufrüstung und Grenzgewalt unter dem Stern des bulgarischen Schengen-Beitritts
Die türkisch-bulgarische Grenze gilt unter Nichtregierungsorganisatio nen...
IMI - 2024/05/02 13:57
Klaus Gestwa: Kein Wissenschaftspreis für Kriegspropaganda!
— Einer der vehementesten Fürsprecher für Waffenlieferungen...
IMI - 2024/04/30 11:07
Warnung vor einer Senkung der Hemmschwelle durch den Einsatz...
Expert:innen im Bereich unbemenschter Systeme fordern,...
IMI - 2024/04/29 09:55
Umschalten auf Kriegswirtschaft
Anfang März 2024 legte die Europäische Kommission zwei...
IMI - 2024/04/24 03:57

Archiv

Status

Online seit 7170 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2013/01/26 00:43

User Status

Du bist nicht angemeldet.