"Raider heißt jetzt Twix“

Interview Tobias Pflüger mit graswurzel.net/utopia/, 23. Januar 2008

Der „neue“ EU-Reformvertrag

Die EU-Verfassung ist an den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Der Vertrag von Lissabon, auch Reformvertrag genannt, soll jetzt als Ersatz dienen. utopia sprach mit Tobias Pflüger, Mitglied des Europaparlaments, über den Vertrag, und was dahinter steckt.

Tobias, was unterscheidet den Reformvertrag von der gescheiterten EU-Verfassung?

Fast nichts. Der irische Präsident hat gesagt, dass 90 Prozent des Inhalts übereinstimmen. Ich bin mittlerweile der Meinung, dass es 95 Prozent sind. Man hat lediglich alle Punkte, die die EU als staatliches Gebilde erscheinen lassen, wie den Begriff „Verfassung“, weggelassen. Alle problematischen Teile des Verfassungsvertrages wurden einfach übernommen.

Das heißt, man versucht den nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten EU-Verfassungsvertrag mit einigen kosmetischen Operationen an den Menschen vorbeizumogeln. Raider heißt jetzt Twix - sonst ändert sich nix.

Welche Punkte sind denn deiner Meinung nach problematisch?

Meine drei Hauptkritikpunkte an dem Vertrag sind die Festschreibung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, einer mörderischen Flüchtlingspolitik und vor allem die Festschreibung Militarisierung der Europäischen Union u.a. durch eine Verpflichtung zur Aufrüstung und Beteiligung an Auslandseinsätzen.

Zu den Auslandseinsätzen wird aber auch gesagt, dass sie Zwecken wie der Friedenssicherung, der Konfliktverhütung oder der Terrorismusbekämpfung dienen sollen…

Das sind natürlich schöne Floskeln. Worum es bei den Einsätzen des EU-Militärs wirklich geht, hat sich in der Vergangenheit oft gezeigt. Im Kongo wurde durch die Absicherungen der Wahlen ein Präsident unterstützt, der nun europäischen Unternehmen Ausbeutungslizenzen erteilt. Es geht nicht um Frieden, sondern um europäische Interessen und Interessen von EU-Mitgliedstaaten.

Kriege für europäische Wirtschaftsinteressen: Werden die nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Einsätze mit der Charta der Vereinten Nationen vereinbar sein müssen?

Das ist nicht ganz richtig. In dem Vertragsentwurf ist nämlich nur von den „Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen“ die Rede und nicht von der verbindlichen UN-Charta selbst. So bleibt die Auslegung bei den "Anwendern" und es werden auch Einsätze ohne UN-Mandat ermöglicht. Geschickt gemacht!

Du kritisierst zudem, dass Militäreinsätze der parlamentarischen Kontrolle entzogen werden.

Richtig. Das Europaparlament ist offiziell im Bereich der Außen- und Militärpolitik nicht zuständig, es wird nur auf dem Laufenden gehalten. So darf ich als Abgeordneter eine Minute lang Fragen stellen, die noch nicht mal beantwortet werden. Das Parlament entscheidet lediglich über den gesamten EU-Haushalt. Nun mit dem Reformvertrag wird ein eigener Militärhaushalt ("Anschubsfond") eingerichtet, der keiner parlamentarischen oder gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Entscheidungen werden ausschließlich vom EU-Rat getroffen, der sich aus den Regierungen der einzelnen Staaten zusammensetzt.

…die in den jeweiligen Ländern gewählt wurden.

Ja, allerdings sind im EU-Rat dann nur noch die Vertreter der jeweiligen Mehrheiten aus den nationalen Parlamenten vertreten. Die parlamentarische Opposition bleibt außen vor, die außerparlamentarische sowieso…

In dem Vertrag ist von einem „integrierten Grenzschutzsystem an den Außengrenzen“ die Rede. Gibt es das nicht bereits?

Ja, es gibt bereits ein solches Abschottungssystem, u.a. mit der Agentur FRONTEX. Durch den Vertrag werden Einrichtungen wie diese "Grenzschutzagentur" Frontex, die die Abschottung Europas steuern, auf eine rechtlich höhere Ebene gezogen. Letztendlich wird die mörderische Abschottungspolitik, die jedes Jahr hunderte Flüchtlinge tötet, rechtlich abgesichert.

Wie geht es jetzt weiter?

Der Vertrag wurde am 13. Dezember von den Regierungschefs unterzeichnet. Jetzt müssen die Mitgliedsstaaten den Vertrag ratifizieren. Nur in Irland wird es ein Referendum geben. Ansonsten geht der Lissabonner Vertrag nur durch die Parlamente und wird wohl überall abgesegnet. In Deutschland wird der Bundestag am 25. April in zweiter Lesung wahrscheinlich mit einer deutlichen Mehrheit von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen zustimmen. Wir müssen jetzt eine Informationskampagne starten gegen diesen Reformvertrag.

Interview: David

Zitate aus dem Vertragsentwurf:

Militarisierung:
"Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten
schrittweise zu verbessern.“ Artikel 28, 3

Abschottung:
"Die Union entwickelt eine Politik, mit der […] die Personenkontrolle und die wirksame Überwachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen sichergestellt werden soll.“ Artikel 69

Neoliberalismus:
„Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft handeln im Einklang mit dem
Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ Artikel 98

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