Neoliberal, militaristisch: Nein zu dieser Verfassung - So sieht's zumindest der linke EU-Parlamentarier Tobias Pflüger

Pressebericht in: Schorndorfer Nachrichten, 12. oder 13. (?) April 2005

Von unserem Redaktionsmitglied Peter Schwarz, Schorndorf.

Ist jeder, der den europäischen Verfassungsentwurf ablehnt, ein Anti-Europäer oder gar ein rechter Nationalist? Mitnichten, sagte der linke EU-Parlamentarier Tobias Pflüger bei seinem Vortrag in Schorndorf und begründete: Dieser Verfassungstext öffne der militärischen Hochrüstung und neoliberalen Wirtschaftspolitik Tür und Tor. Etwa 50 verschiedene Broschüren, Bücher, Flugblätter liegen aus in der Schorndorfer Manufaktur: "Stoppt die Militarisierung der EU"; "Unsere Welt ist keine Ware".

Dagegen sind die Besucher klar in der Unterzahl: etwa 30 Leute; Jeans-, Kordhosen-, Parka-, Lederjacken- und Rucksackträger; Gewerkschafter, Friedensbewegte. Das letzte Häuflein der Linken oder der Anfang einer neuen Gegenbewegung? Wer wagt das schon zu deuten. Klar ist so viel: Es handelt sich um eine "Riesenausnahme", sagt Tobias Pflüger, dass sich in Deutschland überhaupt "Menschen um den Verfassungsvertrag kümmern".

Dabei handelt es sich um "das wesentliche Vertragswerk für die nächsten 50 Jahre", sagt der französische Staats-Chef Jaques Chirac. EU-Recht sticht deutsches Recht: Der Verfassungsvertrag steht über einzelstaatlichen Regelungen. Und dieser Text ist kein vages Grundsatzpapierchen, sondern ein 400 Seiten starkes Dokument mit teilweise sehr präzisen politischen Festlegungen. Aber in Deutschland darf die Bevölkerung darüber nicht abstimmen, es gibt keinen Volksentscheid wie zum Beispiel in Irland, Holland oder Frankreich.

"Soziale" Marktwirtschaft oder "offene" Marktwirtschaft? Der Verfassungstext sagt mal dies, mal das.

Tobias Pflüger wurde als Parteiloser über die PDS-Liste ins EU-Parlament gewählt und gehört dort der linken Fraktion an. Für fragwürdig hält er bereits die Grundstruktur des Verfassungsvertrags: Er besteht aus fünf Teilen und während die "allgemeinen Bestimmungen" und die "Grundrechts-Charta" Absichtserklärungen formulieren, schwächen die "Durchführungsbestimmungen", "Erläuterungen" und "Protokolle" vieles davon wieder ab. Der Umdeutungsmechanismus wirkt so allgegenwärtig, dass Kritiker die ersten beiden Teile als "leere Hülle" bezeichnen. Nur ein Beispiel: Die "allgemeinen Bestimmungen" proklamieren die soziale Marktwirtschaft die "Durchführungsbestimmungen" reden von "offener Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Purer Neoliberalismus, sagen die Gegner des Verfassungsvertrags. Vieles ist nur vage geregelt in diesem Text, anderes höchst konkret vor allem die Militärpolitik, sagt Pflüger und zitiert Javier Solana, den außenpolitischen Koordinator der EU: In diesem Bereich komme die EU "in Lichtgeschwindigkeit" voran.

"Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Möglichkeiten schrittweise zu verbessern", heißt es im Vertrag. Kritiker finden dafür prägnantere Worte: Eine Aufrüstungsverpflichtung werde in den Verfassungsrang erhoben. Der Vertrag sieht eine so genannte "strukturierte Zusammenarbeit" vor. Das heißt: Einzelne EU-Staaten können Militärprojekte unabhängig von den anderen Mitgliedern auf die Beine stellen, zum Beispiel eine deutsch-französische Brigade und die kann dann im Namen der EU tätig werden, auch wenn in Wahrheit nur die beiden beteiligten Länder zustimmen. Die restlichen EU-Mitglieder haben lediglich das Recht zur "konstruktiven Enthaltung". "Strukturierte Zusammenarbeit", "konstruktive Enthaltung": Die verschleiernden Formulierungen erinnern an den "Neusprech" aus Orwells Buch "1984". Eine ursprünglich so genannte Rüstungsagentur (mittlerweile ebenfalls gut orwellsch umgetauft in Verteidigungsagentur) koordiniert Rüstungsprojekte; dafür wurde kein Haushalt geschaffen, sondern ein Fonds, in den die Mitgliedsstaaten ein zahlen. Doch wo kein Haushalt, da auch kein demokratisches Kontrollrecht des EU-Parlaments.

Militärische Einsätze können vom EU-Ministerrat beschlossen werden. Allein Deutschland kennt noch den so genannten "Parlamentsvorbehalt": die Pläne müssen vom Bundestag abgesegnet werden. Doch selbst da gibt es längst Ausnahmen bei sogenannten "niederschwelligen" Einsätzen. Wann wird die EU militärisch aktiv? An diesem Punkt glänzt die Verfassung plötzlich wieder durch Vagheit: "Abrüstung" von Gegnern; "Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung", "Bekämpfung des Terrorismus".

In EU-Strategiepapieren wie dem "European Defense Paper" ist die Rede von "Entwaffnungsmissionen" (so könnte, wer wollte, auch den Irak-Krieg bezeichnen) und auch von einem "Präventivkriegskonzept". Bei alldem wird der Einsatz britischer und französischer Atomwaffen nicht ausgeschlossen. Pflügers Fazit: Hinter dem Verfassungsvertrag stehe die "Idee, dass man eine EU-Militärmacht bräuchte, die genau denselben Blödsinn macht wie die USA". Wer gegen diese Verfassung ist, sei gegen Europa das ist ein gängiges Argument. Tobias Pflüger sieht das ganz anders: Gerade überzeugte Europäer sollten darüber streiten dürfen, welchen Weg ein geeinter Kontinent künftig geht. Europa braucht eine Verfassung aber, sagt Pflüger, nicht diese.

Der Widerstand formiert sich, Frankreich tendiert zum Nein, und deshalb ist fraglich, ob die Verfassung in dieser Form in Kraft tritt.

Wird der EU-Verfassungsvertrag in seiner derzeitigen Form jemals in Kraft treten? Das ist derzeit noch völlig offen. Zwar haben die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedsstaaten den Entwurf bereits am 29. Oktober unterzeichnet doch nun müssen die einzelnen Länder das Vertragswerk bestätigen ("ratifizieren"). In manchen geschieht das per Parlamentsbeschluss (zum Beispiel am 12. Mai im Bundestag), in anderen per Volksentscheid (zum Beispiel am 29. Mai in Frankreich). Damit die Verfassung in Kraft tritt, müssen alle 25 Mitgliedsstaaten ihr Ja geben. Bislang haben das aber nur fünf Länder getan: Italien, Litauen, Ungarn, Slowenien und Spanien. In kleineren Ländern wie Holland und Tschechien wächst derzeit die Skepsis die Verfassung verschiebe das Machtgefüge in der EU zu Gunsten der großen Staaten. In beiden Ländern entscheidet das ganze Volk, ein Ja ist fraglich. In Tschechien erwägt die Regierung deshalb, die Volksabstimmung zu umgehen und das Parlament entscheiden zu lassen.

Wegweisend wird die Entscheidung in Frankreich sein, dem neben Deutschland gewichtigsten EU-Staat. Während in Deutschland die Verfassung kaum diskutiert wird, erweisen sich im Nachbarland die Bürger bei Straßenumfragen als meinungsstark und gut informiert und es gibt gegen den aktuellen Text eine breite Bewegung, die von den Kommunisten über Gewerkschaften und die globalisierungskritische Gruppe Attac bis tief hinein in die Sozialdemokratie reicht. Der EU-Parlamentarier Tobias Pflüger ist sich "relativ sicher: Es wird in Frankreich dieses Nein geben."

Auch in Deutschland formiert sich eine Kampagne gegen diesen Verfassungstext. In Baden-Württemberg haben sich Aktivisten von attac über Friedensgruppen und Verdi Stuttgart bis zur PDS zum Bündnis "Europa in schlechter Verfassung" zusammengeschlossen.

Info: Die Initiative "Europa in schlechter Verfassung" stellt ihre Einwände gegen den Verfassungsvertrag vor unter http://www.eu-verfassung.com

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