Soldaten werden Missionare

Pressebericht in: Telepolis - Peter Nowak - 01.05.2005

Die Debatte über die EU-Verfassung beginnt auch in Deutschland - allerdings noch äußerst gedämpft
In Frankreich tobt seit Wochen eine heftige Debatte um die EU-Verfassung. In Deutschland kann von einem großen Interesse an diesen Fragen bisher allerdings noch keine Rede sein. Knapp 100 Interessierte haben sich am Freitagabend in Berlin auf einer von verschiedenen Juristenorganisationen organisierten Konferenz (1) mit der Frage beschäftigt, ob die EU in schlechter Verfassung ist.

"In Frankreich wäre jetzt der Saal randvoll", meinte Dr. Andreas Fisahn (2) von der Universität Bielefeld. "Vor drei Monaten hätten sich allerdings höchstens zehn Interessierte in Berlin eingefunden". Fisahns folgende Ausflüge in Verfassungsgeschichte machten es allerdings Laien schwer zu folgen. Einige Interessierte verabschiedeten sich daher bald. So bestätigte gerade der erste Referent das Vorurteil, dass Europafragen in erster Linie für Verfassungsrechtler und Juristen interessant sind. Die folgenden Referenten hingegen orientierten sich mit ihren Beiträgen mehr an der aktuell-politischen Debatte.

Alle Podiumsteilnehmer sahen ein mögliches Nein der Franzosen zur EU-Verfassung nicht als Katastrophe. Die Differenz lag in der Frage, ob eine Ablehnung das Beste sei, was sich bürgerrechtliche und friedenspolitische Gruppen wünschen können. Diese Meinung vertrat die Mehrheit der Referenten. Besonders prononciert äußerte sich dazu Martin Hantke, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den über die PDS-Liste ins EU-Parlament gewählten Abgeordneten Tobias Pflüger (3) arbeitet."Aus bürgerrechtlicher Sicht sind zahlreiche Bestimmungen im EU-Verfassungsentwurf inakzeptabel", so Hantke. Diese Rückschritte werden nach Ansicht des Juristen auch nicht durch einige Verbesserungen im Vergleich zum Nizza-Vertrag aufgehoben. Alternativvorschläge sind in den EU-Gremien abgelehnt worden. "Damit diese Alternativen überhaupt mit Aussicht wieder in die Debatte eingeführt werden können, muss das gegenwärtige Projekt des Verfassungsvertrages zunächst zum Scheitern gebracht werden", so Hantke.

Auch der Berliner Politikwissenschafter Elmar Altvater (4) sieht für eine Nichtratifizierung des Verfassungsentwurfs aus linker Perspektive gute Gründe (5). Seine Hauptkritik lautet, dass in der EU-Verfassung ein neoliberales Wirtschaftsmodell festgeschrieben werden soll. Im Gegensatz schließe das deutsche Grundgesetz ein sozialistische Wirtschaftsmodell nicht aus. Als Beispiel zitiert er eine Passage aus dem EU-Verfassungsentwurf.: "Die Arbeitnehmer haben das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben." Von einer Verpflichtung, diese Arbeitsplätze zu schaffen, findet sich hingegen kein Wort in der Verfassung.
Altvater erinnerte an die 21 Änderungsanträge zur EU-Verfassung, die die französische Attac-Sektion (6) öffentlich diskutiert (7). Es gehe schon darum, über die reine Ablehnung der Verfassung hinaus auch Alternativvorschläge zu formulieren.

Breiten Raum nahm auch die Debatte um den militärpolitischen Teil der Verfassung (8). Hantke kritisiert, dass dort eine Aufrüstungsverpflichtung ebenso enthalten sei wie die Etab1ierung eines Rüstungsamtes, das regelmäßig kontrollieren soll, wie die Mitgliedsländer dem Aufrüstungsgebot nachkommen. Selbst die Frage, ob die EU auch Militäreinsätze ohne UN-Genehmigung durchführen kann, blieb unter den Juristen am Podium strittig. Schließlich gibt es dazu verschiedene Textstellen. Peter Becker, der Vorsitzende der juristischen FriedensorganisationIALANA (9), stützte sich auf die Teile der Verfassung, die zivile statt militärische Lösungsansätze favorisieren. Becker war denn auch der einzige, der bei aller Kritik im Detail für die Annahme der Verfassung eintrat. Allerdings wünschte er sich dann ein große Demonstration der europäischen Friedensbewegung gegen die Aufrüstungsverpflichtung. Es fiel auf, dass Beckers Kritik an den USA deutlich schärfer ausfiel. Sie sei für ihn kein Rechtsstaat mehr, betonte der Jurist. So wurde die Frage, bist du für die EU oder die USA selbst an diesen Abend nicht ganz außer Acht gelassen.

Ein nichtjuristischer Zuhörer wollte am Ende wissen, was sich überhaupt durch die Annahme der Verfassung in der EU konkret ändern würde. Nach kurzem Überlegen antwortete der Berliner Rechtsanwalt Thomas Schmidt von den Europäischen JuristInnen für Demokratie und Menschenrechte (10): "Dann haben wir keine EU-Soldaten mehr, sondern nur noch Missionare. Schließlich werden die EU-Militäreinsätze im Verfassungstext durchweg als Missionen bezeichnet."

Links
(1) http://www.rewi.hu-berlin.de/stud/akj/kongress/eu290405.htm
(2) http://www.jura.uni-bielefeld.de/Lehrstuehle/Fisahn/index.html
(3) http://tobiaspflueger.twoday.net/
(4) http://www.polwiss.fu-berlin.de/people/altvater/
(5) http://www.freitag.de/2005/17/05170601.php
(6) http://www.attac.fr/
(7) http://www.hamburger-illustrierte.de/content/htm/tic/2005/03/30/200503302117.html
(8) http://eu-verfassung.com/
(9) http://www.ialana.de/
(10) http://www.ejdm.de/

Quelle: http://www.telepolis.de/r4/artikel/20/20007/1.html

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