"Und der Sozialstaat bleibt auf der Strecke"

Pressebericht in: Schorndorfer Nachrichten, 30.04.2005

Von unserem Redaktionsmitglied Veit-Ulrich Hoffmann

"Das neoliberale Europa gibt’s schon, und der Sozialstaat bleibt auf der Strecke." Und sollte der Entwurf zur Verfassung Wirklichkeit werden, dann kommt das "unerträglichen Fesseln gleich, die jede gemischte Wirtschaftsform ausschließen". Der SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Hermann Scheer hat’s geschrieben, hat’s versprochen und will’s am 12. Mai wahr machen: Er stimmt gegen die EU-Verfassung.

Ingrid Brauchle-Kloninger, Michael Pflugrath und Adolf Riekenberg, allesamt attac-Mitglieder, haben quasi ein Heimspiel im Wahlkreis-Büro des Bundestagsabgeordneten. Besser gesagt: Sie führen den Anstoß aus und dann übernimmt Hermann Scheer Ball und Spiel. Ein paar Einwürfe bleiben den Gästen; als die Begegnung nach eineinhalb Stunden abgepfiffen wird, bleibt die Erkenntnis, dass nur auf ein Tor gespielt und geballert wurde. Scheer/attac gegen EU-Verfassung: viel zu null.

Allerdings: Die Begegnung findet praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In Deutschland, so einhellig der Eindruck, bindet die Diskussion um die EU-Verfassung weniger Publikum als ein Punktspiel der Stuttgarter Kickers. Woran’s liegt, hat Hermann Scheer durchaus ausgemacht. Wer sich als Deutscher gegen die EU-Verfassung aufstellt, dem streifen sie gleich das Leibchen des Anti-Europäers und Nationalisten über. So wie damals unterm alten Bismarck, als jede Kritik am Staat gleich "undeutsch" war. Aus taktischen Gründen also geben sich viele deutsche Politiker nicht als Gegner des Verfassungsentwurfs zu erkennen. "Italiener, Franzosen oder Engländer haben es da viel leichter." Und so setzen Scheer und die attac-Vertreter auf eine Spielgemeinschaft mit der Equipe tricolore. In Frankreich entscheiden die Bürger über den Verfassungsentwurf. Und so wie die Wett-Quoten im Augenblick stehen, werden sich die Gegner durchsetzen. Damit dann, so die Hoffnung im Büro Scheer, verschwindet dieser Entwurf im Abfalleimer für geplatzte Spielbälle.

Unkommentiert lässt Hermann Scheer die Partie deswegen nicht. Weil sie schon unter völlig falschen Bedingungen angepfiffen wurde. "Es hätte überprüft werden müssen, welche europäischen Kompetenzen zu verankern sind, die noch nicht verankert sind. Und welche da sind, die dort nicht hingehören."

Auch der weitere Spielverlauf nahm Wendungen, die einem wie Scheer nicht gefallen können. Eine Verfassung gehört von gewählten Parlamentariern aufgestellt. So sei’s demokratische Spielpraxis. Und dann stürmt der Sozialdemokrat aufs Ziel zu wie der Brasilianer Ailton in seinen besten Tagen aufs Tor: unwiderstehlich. Was ist das für eine Verfassung, in der eine Wirtschaftsform festgeschrieben wird. Der Binnenmarkt nämlich. Ein Passus, den Scheer "aus keiner anderen demokratischen Verfassung kennt". Und Scheer kennt viele.

Für ihn ist’s der Knackpunkt. Von "Kultur, Bildung und Teilen des Strafrechts abgesehen" hat alles, was Europapolitik ist, "direkt oder indirekt mit Ökonomie" zu tun. Wenn aber das ökonomische System in der Verfassung festgeschrieben wird, schwant Scheer, dann wird das, was unter dem Begriff "neoliberal" läuft, zementiert. Dann kann sich Europa in einem "schleichenden Prozess alles greifen, was es will". "Gleichgeschaltete bauliche Genehmigungsverfahren von Zypern bis Irland" braucht kein Mensch, hebt Scheer zum Buh auf die europäischen Regelwerk-Macher an. "Wenn es diesen Weg weitergeht, wird sich Europa selbst schwächen." Die Regierungen, richtet der Abgeordnete seine Kritik auch an die Trainerbank, stimmen den Regeln zu und setzen sie dann nicht um. Weil sie nicht umzusetzen sind. In der Folge häufen sich die Verfahren wegen der vielen Verstöße, aber "Konsequenzen ziehen sie nicht daraus".

Wobei das Schicksal der nationalen Regierungen ein vorhersehbares ist, sollte der Verfassungsentwurf Wirklichkeit werden: "Das bedeutet die Förderung eines privaten Monopolisierungsprozesses, in dem die Regierungen zu Territorialverwaltungen der internationalen Wirtschaft schrumpfen. Das ist ein privatwirtschaftlicher Verplanwirtschaftungsprozess."

Da könnt’s einem ganz angst und bange werden. Aber zum Glück gibt’s ja noch die Franzosen. "Ich sehe die Verfassung so nicht kommen", blickt Hermann Scheer voraus aufs nächste Spiel. Nicht zuletzt der Franzosen wegen. Und deshalb wollen die Menschen von attac tatkräftig unterwegs sein, um die Freunde in Frankreich bei der Ablehnung des Referendums anzufeuern.

Wobei es sich um eine Gemeinschaft auf Zeit handeln dürfte. "Bei Euratom bin ich ganz anderer Meinung als die", sagt Hermann Scheer. "Beim Militär auch", ergänzt Adolf Riekenberg.

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