Linker Aufbruch in Frankreich

Interview in: Tagblatt Anzeiger - 18.05.05

Während in Deutschland der Bundestag die EU-Verfassung abgesegnet hat, darf in Frankreich das Volk entscheiden. Am 29. Mai stimmen die Franzosen ab. Wir fragten den Tübinger EU-Parlamentarier Tobias Pflüger nach der Stimmung im Land.

TAGBLATT ANZEIGER: Am 29. Mai entscheiden die Franzosen über die EU-Verfassung. Wie ist die Stimmung?

Tobias Pflüger: Es gibt eine richtige soziale Aufbruchstimmung. Viele sehen eine Chance, den Verfassungsvertrag zu kippen. Dabei scheint auch eine neue Linke aus den sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, kommunistischer Partei, kritischen Grünen und Sozialisten, von Linksrepublikanern und Trotzkisten zu entstehen.

Warum sind diese so skeptisch?

Wenn man den Umfragen glauben darf, vor allem, weil sie die wirtschaftsliberalen Bestimmungen kritisch sehen. Ein Projekt, das sich darauf beschränkt, einen „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb“ bereitzustellen, trifft in Frankreich gerade auch aufgrund der Verankerung des Sozialstaats in der französischen Verfassung auf große Skepsis.

Was können sie denn verlieren?

Vor allem die Perspektive eines sozialen Europas für die nächsten Jahrzehnte. Mit dem EU-Verfassungsvertrag werden ultraliberale Wirtschaftsprinzipien in Marmor gemeißelt. Wenn den Leuten erzählt wird, mit einer „freien Marktwirtschaft mit offenem Wettbewerb“ ließen sich die Sozialstandards verteidigen, betrügt man die Leute einfach nur. Wenn die EU-Politik auf dieser Grundlage fortgesetzt wird, war Hartz IV nur ein erster Vorgeschmack von dem, was uns in den nächsten Jahren erwartet.

Wurde die EU-Verfassung in Frankreich heftiger diskutiert?

Die deutsche Situation lässt sich so bilanzieren: Ohne Referendum keine Öffentlichkeit – und vor allem keine Debatte. Es ist beschämend, dass eine derart gravierende Veränderung den Menschen in diesem Lande nicht zur Entscheidung vorgelegt wurde. So wurde hier fast unbemerkt dem Vertrag am 12. Mai im Bundestag zugestimmt. Am 27. Mai wird der Bundesrat zustimmen. Selbst Oskar Lafontaine hat sich mit seinem Nein zur EU-Verfassung erst vor wenigen Tagen zu Wort gemeldet.

Wenn die Nachbarn Nein sagen...?

... dann ist der Verfassungsvertrag in der EU abgelehnt. Ein Plan B, von dem jetzt fabuliert wird, hat keine Zukunft. Mit dem Scheitern dieses Verfassungsvertrags in Frankreich ergibt sich die Möglichkeit einer Neuverhandlung. Und um einmal eine wichtige Änderungsmöglichkeit zu nennen: Statt einer strukturierten militärischen Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten – wie im Verfassungsvertrag vorgesehen, bei der viel Geld für Aufrüstung und die Herstellung globaler Kriegsführungsfähigkeit ausgegeben werden wird – könnte eine soziale und zivile „strukturierte“ Zusammenarbeit aus der Taufe gehoben werden, die in Frankreich und Deutschland gemeinsame soziale Mindeststandards vereinbart und umsetzt. Statt einer jahrzehntelangen Verhinderung eines sozialen Standards könnte so der Anfang für ein soziales Europa gemacht werden. Es steht also am 29. Mai viel auf dem Spiel. Wichtig ist, eine Verhinderung ist nur jetzt möglich, eine Veränderung bedarf der Zustimmung und Ratifizierung in allen dann 27 oder noch mehr EU-Mitgliedstaaten.

Wie wurde in Frankreich das deutsche Ja aufgenommen?

Trotz der Millionen Euro, die Bundesregierung und EU in eine einseitige Informationskampagne investiert haben, wurden die Stimmen in Deutschland gegen diesen Verfassungsvertrag auch in Frankreich hörbar. Der Ausgang der Abstimmung im Bundestag hat niemand wirklich verwundert.

Die Fragen stellte Manfred Hantke

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