Kein Ende der Krise in der Europäischen Union - Ratlosigkeit und Streit prägten den mit Spannung erwarteten EU-Gipfel in Brüssel / Zähes Feilschen um Finanzen / Verfassungsprozess auf Eis gelegt

Pressebericht in: Neues Deutschland - 18.06.05 - Olaf Standke

Eine vertagte Verfassungskrise und Streit um die künftigen Finanzen – statt Aufbruch droht der EU nach dem Gipfel in Brüssel der Verlust der politischen Handlungsfähigkeit.

Ein guter Tag für Europa sei die Einigung über den britischen Beitragsrabatt – auch ein Gipfelsatz, aber fast genau 21 Jahre alt und in Fontainebleau bei Paris gesprochen. Gestern wurde in Brüssel heftig um diese Sonderregel gestritten, und fast alle Mitgliedstaaten wollen sie kippen – der »eiserne« Tony Blair natürlich nicht. Und der britische Premier ging geschickt in die Vorwärtsverteidigung: Man wolle ja durchaus verhandeln, wenn zugleich an eine grundlegende Reform des EU-Haushalts von 2007 bis 2013 gedacht ist. Schließlich sei es die »verzerrte Struktur« des Budgets, die den Beitragsnachlass für London erst notwendig mache.

Gemeint sind die überdimensionierten Agrarausgaben, die vor allem Frankreich zu Gute kommen. Aber das Argument, dass die EU wenig zukunftsorientiert viel mehr Geld für die Landwirtschaft als für Forschung und Entwicklung ausgibt, ist jenseits allen nationalen Feilschens um Beiträge und Subventionen nicht vom Tisch zu wischen. Das hatte Jan Peter Balkenende gestern jedoch nicht im Auge. Der Regierungschef des »Nettozahlers« Niederlande braucht nach dem verlorenen Verfassungsreferendum ein Signal für zu Hause und drohte deshalb mit einem Veto, sollte sein Land nicht um eine Milliarde Euro bei den Zahlungen in die EU-Kasse entlastet werden.

EU-Rats- und Gipfelpräsident Jean-Claude Juncker bot nur 460 Millionen Euro an. Da half es ihm nur wenig, dass vor allem die Vertreter der neuen Mitgliedstaaten aus Osteuropa seinen in letzter Minute vorgelegten Finanzkompromiss unterstützten. Nicht nur Irlands Ministerpräsident Bertie Ahern warnte davor, die Budgetverhandlungen etwa den Briten zu überlassen, die ab Juli den EU-Ratsvorsitz innehaben. »Dann kommen wir in eine Krise.«

Aber in der steckt die Union längst. Am ersten Gipfelabend hatten die Staats- und Regierungschefs die EU-Verfassung nur acht Monate nach der feierlichen Unterzeichnung in Rom auf Eis gelegt. Um weitere Pleiten wie jüngst bei den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden zu verhindern, wurde der Ratifizierungsprozess bis Mitte 2007 verlängert. Neuverhandlungen über die stark kritisierte Verfassung schloss Juncker jedoch noch einmal aus. In welche Richtung in der verordneten »Denkpause« die Überlegungen aber gehen sollen, bleibt offen. Es liegt in der Hand jedes Landes, ob es mit der Ratifizierung fortfährt oder sie aussetzt. Erst im Juni 2006 soll unter österreichischer Präsidentschaft beraten werden, wie es mit der Verfassung weitergeht. Bis auf Luxemburg, wo die Stimmberechtigten schon am 10. Juli zum Votum an die Wahlurnen gerufen werden, und Polen, das bei seinem Oktobertermin bleibt, wurden alle geplanten Referenden von den jeweiligen Regierungen erst einmal verschoben.
Während sich Junker optimistisch zeigte, dass man die Bevölkerung in den EU-Ländern noch vom Wert des ersten gemeinsamen Grundgesetzes der Union überzeugen könne, fällt das Urteil in vielen europäischen Zeitungen verheerend aus. Der konservative Pariser »Figaro« spricht von einer »surrealistischen Lösung in Brüssel«, die römische Zeitung »La Repubblica« sieht »Europa im Koma«.

Es sei völlig unverständlich, so Tobias Pflüger, wie die große Mehrheit der linken GUE/NGL-Fraktion im Europarlament strikt gegen die Verfassung, wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder und die EU jetzt nur weiter machen wollten wie bisher. Aber auch eine Verfassungsbefürworterin wie die PDS-Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann meint, dass eine »Auszeit allein nicht reicht«, und fordert einen »Politikwechsel in der EU«. Die Menschen könnten für das Projekt Europa nur dann zurückgewonnen werden, »wenn die EU zu einer gemeinsamen Kraft entwickelt wird, die zur sozialen Bändigung der Globalisierung willens und fähig ist.« Zu ersten konkreten Schritten müssten daher die endgültige Beerdigung der Bolkestein-Richtlinie und die Stärkung der öffentlichen Daseinsfürsorge gehören.

Trotz aller Verfassungsprobleme soll der für 2007 geplante Beitritt von Rumänien und Bulgarien aber nicht verzögert werden. Der Aufnahme der Türkei wird in der Schlusserklärung des Gipfel nur wenig Raum eingeräumt; die ausdrückliche Begrüßung der Beitrittsverhandlungen ab 3. Oktober war schon in der Gipfelvorbereitung dem Rotstift der EU-Außenminister zum Opfer gefallen.

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